Ukraine aktuell: Rückhalt für Kriegsherren bröckelt
3. Januar 2023Das Wichtigste in Kürze:
- Rückhalt für Moskaus "militärische Spezialoperation" lässt nach
- Kiew meldet weitere erfolgreiche Artillerieschläge
- Präsident Selenskyj warnt vor Abnutzungskrieg
- Ukrainische Polizei findet 25 Folterlager im befreiten Charkiw
- EU-Ukraine-Gipfel geht am 3. Februar in Kiew statt in Brüssel über die Bühne
In Russland wächst der Unmut über die militärische Führung nach dem ukrainischen Angriff auf eine improvisierte Kaserne in der von Russland kontrollierten Stadt Makijiwka in der Region Donezk. "Zehn Monate nach Beginn des Krieges ist es gefährlich und kriminell, den Feind als einen Dummkopf zu betrachten, der nichts sieht", sagte Andrej Medwedew, stellvertretender Vorsitzender des Moskauer Stadtparlaments. Der Senator und frühere stellvertretende Außenminister Grigory Karasin forderte eine interne Untersuchung. Der Abgeordnete Sergej Mironow verlangte, die Offiziere zur Verantwortung zu ziehen, die die Unterbringung von Soldaten in einem ungeschütztem Gebäude angeordnet hätten.
Offiziell räumte das russische Verteidigungsministerium ein, bei dem ukrainischen Angriff auf die Kaserne seien 63 Rekruten getötet worden. Kiew bezifferte die gegnerischen Verluste auf 400 Tote und 300 Verletzte.
Auch in russischen sozialen Netzwerken gab es scharfe Kritik an der eigenen Militärführung. Der Blogger Archangel Spetznaz Z, dem auf Telegram über 700.000 Menschen folgen, schrieb: "Wer kam auf die Idee, viele Soldaten in einem Gebäude unterzubringen, wo selbst ein Narr versteht, dass es selbst bei einem Artillerietreffer viele Verwundete oder Tote geben wird?" In Onlinenetzwerken warfen Nutzer den russischen Behörden auch vor, die Zahl der Toten herunterzuspielen.
Russlands Militär - aus Fehlern nichts gelernt?
Mehrere russische Kriegsreporter - deren Einfluss im Land zuletzt gewachsen ist - sprachen ebenfalls von hunderten Opfern. Sie warfen ranghohen Militärkommandeuren vor, nicht aus früheren Fehlern gelernt zu haben.
Spekuliert wird auch darüber, wie die ukrainische Armee die Unterkunft aufspüren konnte. Mehrere Blogger vermuten, dass russische Soldaten entgegen den Anweisungen mit ihrem Handy telefoniert und die abgefangenen Signale den Standort verraten hätten.
Kiew meldet weitere Artillerieschläge gegen russische Truppen
Die ukrainische Armee meldete binnen weniger Stunden einen zweiten schweren Luftschlag gegen russische Truppen. Bei einem Artillerieangriff nahe der Ortschaft Tschulakiwka im Gebiet Cherson im Süden seien bereits in der Silvesternacht 500 Mann getötet oder verletzt worden. Laut dem ukrainischem Generalstab wurden einen Tag später auch russische Einheiten im Ort Fedoriwka getroffen. Die Zahl der Opfer dort werde noch geprüft. Fedoriwka und Tschulakiwka liegen beide auf der südöstlichen Seite des Flusses Dnipro auf dem von Russland besetzten Teil des Gebiets Cherson. Eine unabhängige Bestätigung für die ukrainischen Angaben gibt es nicht.
Russischer Durchbruch bei Bachmut unwahrscheinlich
Ein wesentlicher Durchbruch des russischen Militärs nahe der umkämpften ukrainischen Stadt Bachmut ist in den kommenden Wochen nach Ansicht britischer Militärexperten unwahrscheinlich. Das geht aus dem täglichen Geheimdienst-Update des Verteidigungsministeriums in London hervor. Die ukrainischen Truppen hätten ihre Positionen verstärkt. Die russischen Angriffe ließen demnach zuletzt nach - nachdem sie Mitte Dezember einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hatten. "Beide Seiten haben hohe Verluste erlitten", hieß es in der Mitteilung weiter. Moskau wirft London eine gezielte Desinformationskampagne vor.
Präsident Selenskyj warnt vor Abnutzungskrieg
Die Führung in Moskau will nach Worten des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj mit langwierigen Drohnen-Angriffen die Ukraine auslaugen. "Wir haben Informationen, dass Russland einen langwierigen Angriff mit Schahed-Drohnen plant", sagte Selenskyj in seiner täglichen Videoansprache. Russland wolle damit Abnutzung erreichen. "Die Erschöpfung unserer Leute, unserer Luftverteidigung, unserer Energie", sagte er. "Aber wir müssen und werden alles tun, damit dieses Ziel der Terroristen wie alle anderen scheitert."
Seit Jahresbeginn seien bereits mehr als 80 Drohnen über ukrainischem Territorium abgeschossen worden, so Selenskyj. Die russischen Militärs setzen die Drohnen überwiegend gegen ukrainische Städte ein, um dort möglichst Schäden im Energienetz anzurichten. Dabei werden sogenannte Kamikaze-Drohnen abgefeuert, die am Ende ihres Fluges senkrecht auf ihr Ziel herabstürzen.
Die relativ langsamen Drohnen aus iranischer Produktion sind ein leichtes Ziel für die Flugabwehr, doch die großen Mengen der eingesetzten unbemannten Flugapparate und die ständige Luftraumüberwachung stellen eine große Herausforderung für die ukrainische Luftabwehr dar. Dazu kommt der Kostenfaktor - eine aus billigen Teilen hergestellte Drohne muss mit teuren Waffensystemen abgeschossen werden.
EU-Ukraine-Gipfel am 3. Februar in Kiew
Der von der EU angekündigte Gipfel mit der Ukraine wird entgegen ersten Informationen nicht in Brüssel, sondern in Kiew stattfinden. Das teilte das Präsidialamt in Kiew nach einem Telefonat von Staatschef Wolodymyr Selenskyj mit EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen mit. An dem Treffen am 3. Februar sollen für die EU aber nicht die Staats- und Regierungschefinnen und -chefs, sondern nur von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel teilnehmen. Das hatte ein Sprecher Michels bereits im Dezember mitgeteilt.
Da der Gipfel nun in Kiew stattfinden soll, wurden damit auch Spekulationen über einen möglichen weiteren Auslandsbesuch Selenskyjs nach seiner überraschenden Reise nach Washington im Dezember beendet. In dem Telefonat erörterten Selenskyj und von der Leyen nach Angaben des Präsidialamtes unter anderem die Lage an den Fronten im russischen Angriffskrieg. Auch Fortschritte der Ukraine auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft und die finanzielle Unterstützung der EU für das Land seien Themen gewesen.
Ukrainische Polizei findet 25 Folterlager im befreiten Charkiw
Seit der Befreiung der Umgebung der ostukrainischen Stadt Charkiw aus russischer Besatzung hat die Polizei nach eigenen Angaben 25 Folterkammern entdeckt. Dort hätten russische Truppen unter anderem Zivilisten unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten und gefoltert, teilte der regionale Polizeichef Wolodymyr Tymoschko auf Facebook mit. Die Gefangenen seien teils mit Elektroschocks misshandelt worden, anderen seien die Finger gebrochen worden.
Die Umgebung von Charkiw war monatelang von russischen Soldaten besetzt. Sie zogen sich erst Anfang September nach einer ukrainischen Gegenoffensive zurück. Seitdem seien in der befreiten Region 920 Leichen von Zivilisten, unter ihnen 25 Kinder, entdeckt worden, teilte Tymoschko weiter mit. Sie seien von russischen Soldaten getötet worden. Russische Streitkräfte haben nach bisherigen Ermittlungen der ukrainischen Behörden auch in anderen besetzten Gebieten wie dem Kiewer Vorort Butscha Kriegsverbrechen begangen.
Russische Flugabwehr schießt Drohnen über Krim ab
Während die ukrainische Luftabwehr seit Tagen versucht, anfliegende russische Kamikaze-Drohnen unschädlich zu machen, hat nun die Flugabwehr der russisch besetzten Halbinsel Krim ukrainische Drohnen bekämpft. Nach einer Meldung der russischen Nachrichtenagentur Tass wurden über dem Marinehafen Sewastopol zwei ukrainische unbemannte Fluggeräte abgeschossen. Sewastopol ist der Hauptstützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte. Der Hafen war bereits mehrfach Ziel ukrainischer Drohnenangriffe, zuletzt am 30. Dezember. Im Oktober hatte das ukrainische Militär mit Sprengstoff beladene Drohnen-Boote gegen die russische Flotte bei Sewastopol eingesetzt. Über deren Wirkung gibt es von beiden Seiten widersprüchliche Angaben.
Banksy-Werk gestohlen: Täter drohen bis zu zwölf Jahre Haft
Der Fall sorgte international für Schlagzeilen: Mehrere Männer schnitten Anfang Dezember ein Bild des Streetart-Künstlers Banksy aus einer Hauswand im Kiewer Vorort Hostomel. Jetzt hat die Staatsanwaltschaft ein Verfahren gegen den mutmaßlichen Haupttäter eingeleitet. Es richte sich ausschließlich gegen den Mann wegen Diebstahls unter Kriegsrecht, hieß es aus der Behörde. Ihm drohen bis zu zwölf Jahre Haft.
"Er war sich des Wertes der Arbeit bewusst und plante, das Graffiti zu verkaufen und über die erhaltenen Gelder nach eigenem Ermessen zu verfügen", erklärte die Generalstaatsanwaltschaft. "Dazu zog er Männer hinzu, die nichts von seinen Absichten wussten, denen er versicherte, dass er über alle erforderlichen Genehmigungen verfügte, das Wandbild zu demontieren." Anwohnerinnen und Anwohner hatten damals beobachtet, wie das Bild einer Frau im Morgenmantel mit Lockenwicklern, Gasmaske und Feuerlöscher aus der Wand geschnitten wurde, und riefen die Polizei herbei. Das Bild wurde beschlagnahmt, das Kulturministerium will über sein weiteres Schicksal entscheiden.
kle/fw/sti/qu/uh (dpa, afp, rtr)
Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.