Ukraine: Deutscher Nachschub für die Offensive
11. Mai 2023Mit einem Werbevideo der ukrainischen Luftwaffe auf Youtube von Anfang Mai will Jurij Ihnat ganz offensichtlich positive Nachrichten verbreiten: Der Sprecher der ukrainischen Luftstreitkräfte gibt bekannt, das deutsche Luftabwehr-System Iris-T SLM habe bislang bei 60 russischen Raketen-Angriffen 60 erfolgreiche Abschüsse erzielt - also alle Ziele getroffen. Unabhängig überprüfen lässt sich das nicht.
In dem Internet-Video beschreibt ein ukrainischer Soldat, der vor dem deutschen Iris-T SLM steht, wie er und seine Kameraden herannahende russische Raketen oder Drohnen auf dem Radar erkennen und "diese Informationen beispielsweise mit benachbarten Flugabwehrraketen-Komplexen teilen" könnten.
Das alles sei "ziemlich beeindruckend". Unabhängige Berichterstatter lässt die ukrainische Armee nicht in die Nähe der modernen westlichen Flugabwehr, die mittlerweile in der Ukraine arbeitet. Ihre Standorte gelten als streng geheim. Der Angreifer Russland soll sie nicht orten können.
Zwei von vier modernen IRIS-T SLM im Einsatz
Im April hat Deutschland das zweite IRIS-T-System an die Ukraine geliefert. Das geht aus der Ende April aktualisierten "Liste der militärischen Unterstützungsleistungen" des deutschen Verteidigungsministeriums hervor. Vier Iris-T SLM sollen insgesamt aus Deutschland geliefert werden. Es ist nach Brancheninformationen das modernste Flugabwehr-Systems aus deutscher Produktion. Der Hersteller Diehl Defence aus dem süddeutschen Ort Überlingen am Bodensee stellt auch eine zugehörige Iris-T-Lenkrakete her.
Kostenpunkt dieses "Lenkflugkörpers": 616.681 US-Dollar (564.608 Euro). Das schätzt zumindest das internationale Stockholmer Friedensinstitut SIPRI. Die Iris-T-Anlage selbst soll 150 Millionen US-Dollar (137,3 Millionen Euro) kosten, sagt André Frank vom Kieler Institut für Weltwirtschaft (IFW) im DW-Interview. Der Ökonom ist Teil einer Forschungsgruppe, die alle paar Monate die internationale Unterstützung für die Ukraine finanziell berechnet.
Rakete mit 250 Kilometern Reichweite
Es ist eine Rechnung mit vielen Unbekannten. Wann genau welche Waffen und welche Munition an die Ukraine geliefert wird, halten Kiew und die Koalition der 54 Unterstützer-Staaten der Ukraine-Kontaktgruppe unter Führung der USA geheim. Großbritannien hat mittlerweile sogenannte "Storm-Shadow"-Raketen geliefert, die von einem britisch-französischen Konsortium hergestellt werden. Das hat der britische Verteidigungsminister Ben Wallace in einer Rede im Unterhaus bestätigt.
Es ist ein Meilenstein in diesem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Denn mit einer Reichweite von 250 Kilometern, abgeschossen von Flugzeugen, kann die ukrainische Luftwaffe damit die russischen Nachschub-Knotenpunkte auf der Krim erreichen.
Nach und nach erreichen die Ukraine offensichtlich neue Lieferungen der von den Unterstützernationen versprochenen Waffen. Auch deshalb verzögere sich die schon so lange erwartete Gegenoffensive, sagt der Ukraine- und Russland-Experte Nico Lange der DW.
Zudem haben ungewöhnlich langanhaltende Regenfälle Anfang Mai die sogenannte Schlammsaison im Süden und Osten der Ukraine verlängert. Regen im Herbst und im Frühjahr die Schneeschmelze machen die für das Land typische schwarze Erde zweimal im Jahr unpassierbar, zumal für tonnenschwere Panzer und gepanzerte Fahrzeuge. Doch seit einigen Tagen wird es wärmer, der Boden trocknet. Das berichtet der ehemalige US-Soldat und Meteorologe David Helms.
Gegenoffensive nicht wie im Kriegsfilm
Die vom ukrainischen PräsidentenSelenskyjseit Monaten angekündigte Frühjahrsoffensive werde nicht wie im Kriegsfilm verlaufen, sagt Nico Lange der DW. "Diese Gegenoffensive ist kein Sturm von ukrainischer Seite, bei dem man sagt: 'Alle Mann auf die Pferde und jetzt rennen wir gegen die russischen Linien'." Er erwarte ein "umsichtiges, systematisches, langsames Vorgehen", so Lange, der auch für die Münchner Sicherheitskonferenz tätig ist. "Es werden Operationen sein, bei denen eine auf die andere aufbaut, eine Reihe von Operationen Schritt für Schritt."
Er gehe davon aus, "dass es lange dauern wird". Lange erinnert an die Befreiung der Großstadt Cherson am südwestlichen Teil des Dnjepr-Flusses im vergangenen Jahr. Es habe von August bis November gedauert, drei Monate allein für dieses Gebiet. Die ukrainische Armee werde versuchen, ihren Vorteil der kürzeren Wege innerhalb des Landes auszuspielen. Er erwarte zunächst Angriffe, um die russische Verteidigungskraft an einzelnen Stellen entlang der Front zu testen.
Die Unterstützerstaaten der Ukraine müssten sich auf eine längere Operation einstellen. Das bedeute, dass die Ukraine auch auf eine "langfristige systematische Unterstützung" angewiesen sei. Die Ukraine brauche einen steten Strom an Munition, sagt Lange.
Rüstungsindustrie: Munitions-Kapazitäten nur nach Bestellung
Der Rat der Europäischen Union hat Mitte April eine Milliarde Euro für Munitionskäufe frei gegeben. Das Geld stammt aus der sogenannten European Peace Facility (EPF), einem Budget der Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Ohne klare Bestellungen würde die Rüstungsindustrie ihre Kapazitäten nicht ausweiten, sagt ein Branchenkenner der DW, der nicht genannt werden will.
Ukraine-Experte Nico Lange kritisiert die Ukraine-Politik der Europäer als zu langsam. Die EU-Länder hätten die Chance gehabt, "mit den Vereinigten Staaten in dieser Frage auf Augenhöhe zu sein, was sie viele Jahre lang behauptet haben, aber sie haben die Chance in diesem Fall verpasst".
Gleichzeitig höre er aus der Politik in Europa die Sorge, dass nach den US-Präsidentschaftswahlen die amerikanische Unterstützung für die Ukraine nachlassen kann - vor allem fallls Donald Trump zurück ins Weiße Haus einziehen sollte. Darauf spekuliere auch der russische Angreifer Wladimir Putin. "Wenn man sich Sorgen macht, ist das nicht genug", so Lange. Europa müsse "die Ankurbelung der Industrieproduktion in Europa" - vor allem für Munition - betreiben. Denn: Mit einem raschen Ende dieses Krieges sei nicht zu rechnen.
Die Militärs in Kiew setzen offenbar umso mehr auf Erfolgsnachrichten: Deutschland, die Niederlande und die USA haben der Ukraine drei Patriot-Abwehrsysteme geliefert.
Im Mai meldete der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow den spektakulären Abschuss einer neuen russischen Hyperschall-Rakete Kh-47 Kinschal, die bislang als kaum angreifbar für westliche Systeme galt. Auch der Pentagon-Sprecher, Brigadegeneral Pat Ryder, bestätigte den Abschuss durch ein Patriot-System. Welche der drei Patriot-Anlagen in der Ukraine die Kinschal getroffen hat, wollte er allerdings nicht sagen.
Mitarbeit: Mykola Berdnyk