Ukraine-Flüchtlinge: Fast die Hälfte will länger bleiben
12. Juli 2023Immer mehr Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine möchten länger in Deutschland bleiben. Das ist ein zentrales Ergebnis der zweiten Befragung der Studie "Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland“. Obwohl eine Verlängerung des bis März 2024 befristeten Aufenthaltsrechts unklar sei, beabsichtigen mit 44 Prozent fast die Hälfte der Geflüchteten längerfristig zu bleiben – "also zumindest noch einige Jahre oder sogar für immer", wie es in der Studie heißt. Gegenüber der ersten Umfrage im Spätsommer 2022 sind das fünf Prozentpunkte mehr.
71 Prozent planen, nicht für immer in Deutschland zu bleiben. Davon wollen 38 Prozent nach Kriegsende in die Ukraine zurückzukehren. Weitere 30 Prozent wollen einen engen Kontakt nach Deutschland halten und zumindest zeitweise hier leben.
Die Zahlen erhob das Sozialforschungsinstitut Infas. Auftraggeber des langfristig angelegten Forschungsprojekts sind das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB), das Forschungszentrum des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF-FZ) sowie das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin).
Informationen über die Lebenssituation der Flüchtlinge
Für die erste zufallsbasierte Untersuchung im vergangenen Jahr hatten rund 11.000 Flüchtlinge im Alter zwischen 18 und 70 Jahren über ihre Lebenssituation in Deutschland Auskunft gegeben. 7000 von ihnen befragten die Wissenschaftler aus Gründen der Vergleichbarkeit auch für die zweite Erhebung von Mitte Januar bis Anfang März diesen Jahres. In beiden Fällen waren etwas mehr als 80 Prozent Frauen, darunter viele Mütter mit minderjährigen Kindern. Das durchschnittliche Alter lag bei knapp 40 Jahren.
Für den Wunsch, in Deutschland zu bleiben, spielt neben dem Kriegsgeschehen in der Ukraine die familiäre Situation eine wichtige Rolle. "Geflüchtete, deren Partner oder Partnerin im Ausland lebt, haben eine geringere Wahrscheinlichkeit, als Singles für immer in Deutschland bleiben zu wollen", sagt Markus Grabka vom Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) bei der digitalen Vorstellung der zweiten Befragungsergebnisse.
Zuwachs bei Deutschkursen
Auch die Wohnsituation spiele eine Rolle. "Personen, die in privaten Unterkünften leben, haben häufiger dauerhafte Bleibe-Absichten als Personen in sonstigen Unterkünften wie Hotels oder Pensionen", erklärt Grapka. Mittlerweile lebten 79 Prozent der Geflüchteten in einer privaten Wohnungen, gegenüber 74 Prozent im Spätsommer des letzten Jahres.
Fortschritte stellten die Forscher beim Deutschlernen fest. Drei von vier ukrainischen Geflüchteten haben einen oder mehrere Deutschkurse besucht oder bereits abgeschlossen, am häufigsten einen Integrationskurs. "Das bedeutet einen Zuwachs von 25 Prozent gegenüber dem Spätsommer 2022", sagt Nina Rother vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF-FZ) in Nürnberg.
Durch das Kursplus konnte der Anteil an Geflüchteten ohne Deutschkenntnisse halbiert werden, von 41 Prozent auf 18 Prozent. "Andererseits besteht aber noch Luft nach oben. Denn der Anteil an Geflüchteten, die gute oder sehr gute Deutschkenntnisse aufweisen, hat sich zwar verdoppelt, ist aber mit acht Prozent eher gering", bemängelt Rother.
Sprachkenntnis als Job-Voraussetzung
Die Sprach- und Integrationskompetenz entscheidet über die Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Allerdings stieg die Erwerbstätigkeitsquote im Vergleich zum Spätsommer 2022 nur leicht: 18 Prozent der 18- bis 64-Jährigen gingen in diesem Frühjahr einer Beschäftigung nach, im Spätsommer 2022 waren es 17 Prozent. Da rund zwei Drittel der Befragten zum Zeitpunkt der zweiten Befragungswelle Deutschkurse besuchten, standen sie dem Arbeitsmarkt nicht oder eingeschränkt zur Verfügung. Mehr als zwei Drittel der Erwerbslosen wollen sich sofort oder innerhalb des kommenden Jahres um einen Job bemühen.
"Insbesondere geflüchtete Frauen mit Kleinkindern haben mit drei Prozent eine sehr geringe Erwerbsquote", berichtet Yuliya Kosyakova vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. "Sie leben in der Regel ohne Partner in Deutschland. Im Gegensatz dazu liegt die Erwerbsquote von Vätern mit kleinen Kindern deutlich höher bei 23 Prozent, die meist mit ihrer Partnerin in Deutschland leben."
Mit der zweiten Befragung liegen erstmalig Informationen zu den Haushaltseinkommen der Geflüchteten vor. "Zu Beginn des Jahres 2023 beläuft sich das mittlere Haushaltsnettoeinkommen der ukrainischen Geflüchteten auf knapp 850 Euro pro Monat", erläutert Kosyakova. Zum Vergleich: laut Statistischem Bundesamt betrug das durchschnittliche Nettoeinkommen eines privaten Haushalts in Deutschland im Jahr 2021 rund 3.800 Euro im Monat.
Einen erheblichen Teil der Flüchtlinge machen Kinder und Jugendliche aus: Etwa jede zweite Ukrainerin ist mit mindestens einem minderjährigen Kind nach Deutschland gekommen. Während fast alle schulpflichtigen Kinder eine allgemein- oder berufsbildende Schule besuchen, nehmen laut der Studie nur wenige Eltern die Kindertagesbetreuung in Anspruch – auch wenn die Nutzung zunimmt: Mehr als jedes zweite Kind im Alter bis sechs Jahren ist mittlerweile in außerhäuslicher Kinderbetreuung.
Mehr Angebote für Kinder nötig
"Ein ausreichend großes Angebot an Kindertages-Plätzen ist für die große Gruppe ukrainischer Geflüchteter in Deutschland wichtig", betont Andreas Ette vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) in Wiesbaden. "Für Eltern, um Sprachkurse besuchen und eine Erwerbstätigkeit aufnehmen zu können – und für Kinder, um die Sprache zu lernen, einen strukturierten Alltag zu haben und Freunde zu finden“.
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs am 24. Februar 2022 fanden mehr als eine Million Ukrainer in Deutschland Zuflucht. Doch die Aufnahme und Integration so vieler Menschen in so kurzer Zeit ist eine Mammut-Aufgabe. Insofern verstehen die vier Forschungsinstitute ihre Studienergebnisse als Entscheidungshilfe für Politik, Verwaltung und Behörden.
Auch wenn DIW-Experte Grabka ein "ermutigendes Zwischenfazit" zieht und davon spricht, dass die "gesellschaftliche Teilhabe zuletzt deutliche Fortschritte gemacht hat“, ist den Studienverantwortlichen bewusst, dass die Integration der Flüchtlinge alles andere als ein Selbstläufer ist.
Tipps für politische Entscheider
Sie empfehlen der Politik, schnell über die Verlängerung des vorübergehenden Schutzes ukrainischer Geflüchteter über März 2024 hinaus zu entscheiden oder andere längerfristige Aufenthaltsperspektiven zu schaffen. "Investitionen in die soziale Teilhabe und in Beschäftigungsverhältnisse setzen Planungs- und Rechtssicherheit sowie verlässliche Aufenthaltsperspektiven voraus – sowohl für die Geflüchteten als auch für die deutsche Gesellschaft“, resümieren die Forscher.