Ukraine: Fotoprojekt dokumentiert gefährdete Kulturstätten
18. Januar 2024Kirchen, Museen, Denkmäler, Mosaiken: Russlands Angriffskrieg zielt auch auf die ukrainischen Kulturgüter. Weit über 800 Kulturstätten seien seit Beginn der Offensive im Februar 2022 bereits beschädigt oder zerstört worden, darunter 120 von nationaler Bedeutung, teilte das Kulturministerium in Kiew mit. Die UNESCO, die Kulturorganisation der Vereinten Nationen, stuft zahlreiche Welterbestätten in der Ukraine als gefährdet ein, darunter die Sophienkathedrale in Kiew und die Altstadt von Lwiw. "Die Zerstörungen nehmen weiter zu", sagt Christian Bracht, Direktor des Dokumentationszentrums Kunstgeschichte - Bildarchiv Foto Marburg, "denn ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht."
Deshalb hat das Marburger Archiv um die 20 einheimische Fotografinnen und Fotografen losgeschickt, ausgestattet mit digitalen Kameras und speziellen Objektiven. In Städten wie Kiew, Odessa, Mykolayjiw und Saporischja fotografierten sie seit Oktober 2022 rund 250 historisch oder kulturell bedeutsame Bauwerke. Dabei entstanden mehrere Tausend Außen- und Innenaufnahmen. "Im Fall ihrer Zerstörung dienen die Bilder als Grundlage für den Wiederaufbau, als wissenschaftliche Dokumentation und zur kulturellen Erinnerung", erklärt Bracht im DW-Interview.
Historische Holzkirchen im Fokus
Was fotografiert wird, das entscheidet der Kunsthistoriker gemeinsam mit einer ukrainischen Kollegin, die Einblick in nationale und regionale Denkmallisten hat. So wurden bereits viele, bisher kaum oder gar nicht dokumentierte Bauwerke abseits des UNESCO-Welterbes in den Fokus gerückt - historische Holzkirchen rund um Lemberg ebenso wie Schlossanlagen und Herrenhäuser, ein neuzeitliches Partisanen-Denkmal und wandfüllende Mosaike in Charkiw.
Als herausragende Beispiel des Projekts "Ukrainian Cultural Heritage" aber nennt Bracht die Kathedrale Mariä Himmelfahrt in Charkiw, eine der ältesten orthodoxen Kirchen der Stadt. Sie wurde Ende des 17. Jahrhunderts erbaut. Berühmt wurde sie durch den Glockenturm, der zu Ehren des russischen Zaren Alexander I. (1777-1825) errichtet wurde, weil er 1812 Napoleon besiegt hatte. Im März 2022 erlitt die Kathedrale große Schäden: Die Innenräume, Ikonen, Fenster, Glasmalereien und Dekorationen der Außenfassade wurden bei den Kämpfen um Charkiw zerstört.
Ebenfalls massiv beschädigt wurde die Kathedrale von Odessa, die Ende Juli 2023 unter Beschuss stand. Kuppel und Dach sind eingestürzt, ein Wiederaufbau scheint kaum mehr möglich. Im Marburger Archiv finden sich Fotos, die das Bauwerk vor und nach der Zerstörung zeigen.
Gezielte Angriffe auf Kulturerbe?
Nicht nur Raketenbeschuss setzt vielen Gebäuden zu, ebenso die flächendeckenden Drohnenangriffe. Doch attackieren die Russen gezielt kulturelle Denkmäler? Christian Bracht ist sich nicht sicher: "Es sind wohl eher die Kollateralschäden bei Angriffen auf Infrastruktur- oder militärische Einrichtungen", vermutet er. "Anders als der Angriff der Alliierten im Zweiten Weltkrieg 1942 auf die Altstadt von Lübeck oder die Zerstörung der Frauenkirche in Dresden, die ins Herz der Kulturnation Deutschland getroffen haben." Ziel der russischen Angreifer sei es aber auch, die Bevölkerung zu demoralisieren.
Bis heute hat Bracht die Ukraine nicht persönlich besucht. Zum Experten für ukrainische Kultur wurde er trotzdem - nicht zuletzt dank des Fotoprojektes, das der Bund und verschiedene Stiftungen mitfinanzieren. "Wir machen uns plötzlich ein neues Bild von der Ukraine", sagt er. Für ihn erzählen die Gebäude- und Denkmalfotos von einer im Westen bislang unbekannten Vermischung unterschiedlichster Baustile.
Der Grund: Immer schon saugte die Ukraine wegen ihrer geographischen Lage zwischen Russland und dem Westen kulturelle Einflüsse aus allen Richtungen auf. "Wie ein trockener Schwamm", so Bracht. "Ohne den russischen Überfall hätten wir vielleicht nicht so einen starken Anlass gehabt, genauer auf dieses kulturell reiche Land zu schauen", sagt er und wundert sich, dass es in Deutschland nicht längst ein Forschungsinstitut zur ukrainischen Kultur gibt.
Mit rund 2,6 Millionen Originalaufnahmen ist das Deutsche Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte - Bildarchiv Foto Marburg weltweit eines der größten Bildarchive zur europäischen Kunst und Architektur. Die Bestände reichen von den 1870er Jahren bis heute und finden sich auf Glasplattennegativen ebenso wie auf Planfilmen, Kleinbildnegativen oder in digitalen Bilddateien. Das Archiv ist öffentlich zugänglich. Das Bildarchiv und Forschungsinstitut gehört heute zur Philipps-Universität Marburg.
Keine Koordinaten für Russland
"Solange der Krieg anhält, werden wir unsere Bild- und Forschungsdaten nicht veröffentlichen", sagt Bracht, denn das Marburger Fotoprojekt will den russischen Angreifern nicht in die Hände spielen. "Sonst könnte sich die russische Armee ja schon allein mit den Geokoordinaten in den Bauwerksdatensätzen mit wenigen Mausklicks eine militärische Landkarte bauen."
Das Fotoprojekt hat für Bracht einen besonders hohen Stellenwert: "Es geht hier um den Wert der menschlichen Schöpfung", sagt er, "den völkerrechtlichen Schutz von Kultur und um Kultur als identitätsstiftender Faktor in der ukrainischen Gesellschaft." Zwar könne die Dokumentation die Zerstörung von Kulturstätten nicht verhindern. "Wir können das Objekt nicht selbst bewahren, sondern nur die visuelle Erinnerung und damit den Wiederaufbau ermöglichen." Dennoch hofft Bracht, das Projekt, an dem auch das Leibniz-Informationszentrum Technik und Naturwissenschaften (TIB) in Hannover beteiligt ist, zügig abschließen zu können. "Wir hoffen, dass der Krieg bald zu Ende geht!"