Ukraine in die NATO - sofort! Geht das?
3. Dezember 2024Artikel 5 ist der Kern des NATO-Vertrages. Er beschreibt die Verpflichtung für alle Mitglieder zum Beistand bei der Selbstverteidigung, sollte ein anderes NATO-Land angegriffen werden. Welchen Beistand es leistet, entscheidet jedes NATO-Mitglied allerdings selbst. "Wir werden jeden Quadratzentimeter des NATO-Gebietes verteidigen", hatte der scheidende US-Präsident Joe Biden nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine immer wieder betont. Unter diesen Schutzschirm möchte die Ukraine gerne schlüpfen. Die NATO hat dies wiederholt zugesagt, aber ohne ein Datum zu nennen. Irgendwann soll der Staat für seinen Abwehrkampf gegen Russland mit der Mitgliedschaft belohnt werden.
NATO-Schutz nur für einen Teil der Ukraine?
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat jetzt vorgeschlagen, den Teil der Ukraine, der frei ist, in die NATO aufzunehmen. Die russisch besetzten Gebiete im Osten und die von Russland völkerrechtswidrig annektierte Krimhalbinsel (rund 27 Prozent der Ukraine) sollen zunächst nicht unter den Schutzschirm der Allianz kommen. So will Selenskyj ein weiteres Vorrücken der russischen Truppen verhindern und Verhandlungen mit Russlands Machthaber Wladimir Putin über einen Waffenstillstand möglich machen.
Technisch ließe sich eine nur teilweise Geltung des NATO-Vertrages auf dem Staatsgebiet der Ukraine wohl regeln. Die Beitrittsurkunde für die Ukraine, die von allen 32 NATO-Mitgliedern ratifiziert werden müsste, kann entsprechend formuliert werden. Schon heute sind im Artikel 14 des NATO-Vertrages Zusatzprotokolle zu anderen Fragen hinterlegt. In Artikel 6 des Vertrages ist das Gebiet der NATO beschrieben. Einige Inseln, die in der Karibik oder im Pazifik zu Frankreich oder Großbritannien gehören, sind zum Bespiel kein NATO-Gebiet. Während der deutschen Teilung in de facto zwei Staaten, BRD und DDR, galt der NATO-Vertrag auch nur für den westlichen Teil Deutschlands, also die Bundesrepublik. Die DDR war Mitglied des Warschauer Paktes, dem Militärbündnis der Sowjetunion.
Viele NATO-Mitglieder stimmen nicht zu
Die Frage ist eher, ob es bei den NATO-Partnern, allen voran beim wichtigsten Mitglied USA, den politischen Willen gibt, die freie Ukraine aufzunehmen. Das Risiko durch einen weiteren Angriff Russlands auf die Ukraine in den militärischen Konflikt hingezogen zu werden, wäre sehr groß, warnen zum Beispiel deutsche Sicherheitspolitiker. Bundeskanzler Olaf Scholz hat bei seinem Besuch in der Ukraine am Montag noch einmal klar gemacht, dass er einen sofortigen Beitritt der Ukraine zur Allianz ablehnt. Der ehemalige NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg ist anderer Meinung. Er sagte kurz nach seinem Ausscheiden aus dem Amt im Oktober, dass die schnelle Aufnahme des größten Teils der Ukraine in die NATO zu einem Ende des Kriegs führen könnte. "Wo ein Wille ist, da gibt es auch Wege, eine Lösung zu finden. Aber man braucht eine Grenze, die definiert, wo Artikel 5 in Anspruch genommen wird, und die Ukraine muss das gesamte Gebiet bis zu dieser Grenze kontrollieren", sagte Stoltenberg der Financial Times im Oktober. Auch Frankreich, Polen und die baltischen Staaten könnten sich eine teilweise Mitgliedschaft der Ukraine vorstellen.
Trump-Faktor schwer zu kalkulieren
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte immer wieder im Rahmen seines "Siegesplans" Sicherheitsgarantien von der NATO verlangt. Nach Einschätzung des deutschen Generalmajors Christian Freuding, Leiter des Planungs- und Führungsstabes der Bundeswehr, steht die Ukraine "mit dem Rücken zur Wand". Deshalb könne sich Selenskyj wohl vorstellen, auf eine Rückeroberung der russisch besetzten Gebiete vorläufig zu verzichten. Der russische Machthaber Putin hatte unter anderem verlangt, dass die Ukraine der NATO nicht beitritt, auch nicht teilweise. Wie sich die neue US-Administration unter Präsident Donald Trump verhalten wird, ist ungewiss. Das Wall Street Journal berichtete unter Berufung auf Quellen in der Umgebung des nächsten Präsidenten, Trump könnte eine Mitgliedschaft der Ukraine um "20 Jahre verzögern" wollen. Wie er das von ihm angekündigte Ende des russischen Krieges gegen die Ukraine bewerkstelligen will, ist unklar.
Rutte: Mehr Waffen, weniger Diskussionen
Bei der aktuellen NATO-Tagung der Außenministerinnen und Außenminister in Brüssel sagte der neue NATO-Generalsekretär Mark Rutte, die Ukraine benötige keine neuen Diskussionen über Wege zu einem Waffenstilstand, sondern mehr Waffen und mehr Raketenabwehr. "Die Ukraine braucht nicht dauernd neue Ideen für einen Friedensprozess, sondern wir müssen sicherstellen, dass die Ukraine das hat, was sie für eine starke Position braucht", sagte Rutte. Aus dieser Position der Stärke heraus, sollte die Ukraine dann mit dem Aggressor Russland verhandeln.