Wie in Charkiw das Leben weitergeht
6. Januar 2023An diesem Ort schlugen am 24. Februar 2022 die ersten russischen Bomben ein: Im Bezirk Nord-Saltiwka, dem größten von Charkiw, lebten vor Kriegsbeginn über 300.000 Menschen. Die weitläufigen Straßen sind dicht mit hellgrauen Hochhäusern bebaut.
Insgesamt wurden in Charkiw mehr als 4000 Gebäude beschädigt, fast ein Drittel davon wurde direkt getroffen. So lauten die Angaben des stellvertretenden Leiters der Abteilung für Wohnungswesen und kommunale Dienstleistungen der Stadt Charkiw, Jewhen Pasenow.
Schon im Mai - nach der ersten ukrainischen Gegenoffensive und der Befreiung des Vororts - begannen die Behörden vor Ort, Häuser zu reparieren, meist Fenster und Dächer. "Wir wollen das Eigentum der Menschen bewahren, damit sie in Zukunft wieder zurückkehren", erläutert der Beamte.
Charkiws Wohnblöcke: wie ausgebrannte Bienenstöcke
Derzeit leben in Charkiw wieder mehr als eine Million Menschen - vor dem Krieg waren es rund 1,5 Millionen. Geschäfte öffnen wieder, es sind wieder mehr Autos unterwegs.
Der Bezirk Nord-Saltiwka jedoch ist kaum bewohnt, da dort alle Wohnhäuser beschädigt sind. Im Frühjahr sahen die löchrigen Wohnblöcke mit zerstörten Fenstern und schwarzen Wänden aus wie verbrannte Bienenstöcke. Jetzt sind die Fenster mit Sperrholzplatten verschlossen.
"Wie viele Menschen sich dort befinden, kann man bei der Verteilung humanitärer Hilfe sehen", sagt Anwohnerin Iryna Petrenko lächelnd. In den vier Wohnblöcken, in denen es wieder Heizung, Wasser und Strom gibt, wohnten knapp 200 Menschen, sagt sie. Iryna verteilt Lebensmittelpakete an die Bewohner, die von Freiwilligen herbeigebracht wurden.
"Hier habe ich geheiratet, eine Tochter zur Welt gebracht, hier hat sie studiert", sagt Iryna über Nord-Saltiwka und fügt hinzu: "Hier ist der Kindergarten, den meine Enkelin besuchte. Hier sind wir mit ihr im Park spazieren gegangen, wo wir auf einer Bank gesessen und an Maiskolben geknabbert haben."
Bei Luftalarm schlief man in Charkiw im Wohnungsflur
Iryna arbeitete als Näherin, ihr Mann arbeitet in einer Möbelfabrik. Ihre Tochter, ihr Schwiegersohn und ihre achtjährige Enkelin verließen Charkiw in den ersten Kriegstagen. Sie selbst blieb mit ihrem Mann zurück.
Bei Luftalarm suchten sie Schutz im Flur ihrer Wohnung und schliefen abwechselnd. Nachts beobachtete Iryna vom Fenster aus, wie Raketen von Russland aus gestartet wurden. Bis zur russischen Grenze ist es hier nicht weit. Tagsüber ging sie trotz Beschusses die Katze ihrer Tochter füttern.
Den ganzen März über war Nord-Saltiwka einem massiven russischen Beschuss ausgesetzt. "Es gab schwere Luftangriffe. Wir saßen bei Kerzenlicht im Flur, auf zwei Stühlen. Mein Mann und ich hatten uns schon verabschiedet. Wir sagten einander, dass wir uns lieben", erinnert sich Iryna.
Nach dieser Erfahrung beschloss das Paar, vorübergehend zumindest in einem anderen Stadtteil unterzukommen. Bevor Iryna die Wohnung verließ, putzte sie noch den Boden. "Mein Mann sagte, das sei doch sinnlos", lacht sie.
Ihr Wohnblock ist unbeschädigt geblieben. "Unter Beschuss sind wir gefahren. Das Nachbarhaus stand in Flammen. Stromleitungen hingen herab und Steine lagen herum, die wir umfahren mussten. Unterwegs sahen wir zerstörte Häuser, einen verwundeten Taxifahrer und seinen toten Passagier, einen alten Mann", erinnert sich Iryna.
Das Paar kam bei einem Freund unter, der sich der Territorialverteidigung angeschlossen hatte. Iryna kochte Essen für ihn und seine Kameraden, was ihr Auftrieb verlieh. "Doch im Mai verfiel ich in eine Depression. Ich wollte einfach nur zurück nach Hause", erzählt Iryna.
Die Bewohner von Charkiw kehren zurück
Die Rentnerin Raisa Lobanowa, die im Frühjahr völlig allein in einem neunstöckigen Wohnblock zurückgeblieben war, erklärte Iryna, wo es Wasser und humanitäre Hilfe gab. Tagelang säuberten die Frauen den Hof, der mit Glassplittern und kaputten Fensterrahmen übersät war.
Im Hof, in der Nähe des Sportplatzes, liegen mit Asche bedeckte Ziegel. Dort befand sich eine Feuerstelle, an der sich Menschen Essen kochten, als es in ihren Häusern weder Gas noch Strom gab. Fast den ganzen Sommer über beschossen die Russen Charkiw immer wieder.
Früher wusste Iryna nicht einmal, wer alles in den Wohnungen auf ihrer Etage lebte. Jetzt kennt sie sogar Bewohner aus benachbarten Straßen. Als sie nach Hause zurückkehrte, wurde sie als Freiwillige aktiv. Sie fand heraus, was die Menschen in ihrer Nachbarschaft benötigten, erstellte Listen und verteilte schließlich humanitäre Hilfe.
Nach der Befreiung von Teilen der Region Charkiw und Lypzi, eines 25 Kilometer von Charkiw entfernten Dorfs, begannen die Menschen im September auch nach Nord-Saltiwka zurückzukehren. Damals sei die Zahl der Angriffe deutlich zurückgegangen, weil die Russen ihre Stellungen verlassen hätten, erklärt Iryna. Die Menschen seien sogar in Wohnhäuser zurückgekehrt, die äußerlich unbewohnbar schienen.
Nun sind zwischen den Hochhäusern Baukräne zu sehen. Nach Angaben der städtischen Behörden werden hier zwei Dutzend Häuser wieder instand gesetzt. Die Arbeiten sollen im Januar abgeschlossen sein. Einige Häuser sind schon fertig.
Zu sehen sind ganze Stockwerke aus Ziegelsteinen, die nun einen Kontrast zum Beton innerhalb der Plattenbauten bilden. An manchen Stellen gibt es neue Fenster. Spiel- und Sportplätze, auf denen russische Granaten einschlugen, werden vorerst noch nicht instand gesetzt, denn noch gibt es kaum Kinder vor Ort.
In Charkiw renoviert man auf eigene Gefahr
Iryna steht vor dem Wohnhaus, in dem die Familie ihrer Tochter gewohnt hat. Sie sieht ein Kuscheltier ihrer Enkelin, einen großen grauen Hund. Im Eingangsbereich ist es kalt und dunkel. Nicht überall gibt es Heizung, Wasser und Strom.
Auch die Wohnung von Irynas Tochter ist kalt und dunkel, die Tapete ist feucht und auf den Boden gerutscht. Wegen des massiven Beschusses mussten hier mehrfach die Fenster zugenagelt werden.
Wie viele Häuser in Nord-Saltiwka nicht mehr renoviert werden können, werden die Behörden erst im Frühjahr einschätzen können. "Vielleicht wird das Gutachten zeigen, dass für die Instandsetzung eine bestimmte Menge Geld benötigt wird, und man wird den Quadratmeterpreis mit einem Neubau vergleichen, und es wird vielleicht teurer oder gleich ausfallen", vermutet Jewhen Pasenow von der Stadt Charkiw.
Dementsprechend ist von einem Plan zum Wiederaufbau von Nord-Saltiwka noch keine Rede. "Internationale Organisationen werden das wohl kaum finanzieren, weil der Krieg noch andauert. Es ist unlogisch, großangelegte Bauarbeiten nur 40 Kilometer von Russland entfernt durchzuführen", gesteht Pasenow und erläutert, dass laut Gesetz beschädigte Häuser erst 90 Tage nach Ende aktiver Kampfhandlungen instand gesetzt werden dürfen. "Was bereits getan wurde, geschah auf eigene Gefahr", so der Beamte.
Am Ende konnten aber gerade in diese Häuser die meisten Bewohner zurückkehren. "Jetzt ist es zumindest ein bisschen fröhlicher hier", sagt Iryna und späht durch die mit Spanplatten vernagelten Fenster ihres Wohnblocks.
Sie erinnert sich: "Als ich zurückkam, war Frühling. Es herrschte Stille, die Vögel sangen. Auf Bäumen hingen Fensterrahmen und Vorhänge. Man ging an ihnen vorbei und blickte auf das Leben anderer Menschen."
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk