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Romamorde in Ungarn

Keno Verseck3. August 2014

Zwischen November 2008 und August 2009 ermordeten Rechtsterroristen in Ungarn sechs willkürlich ausgewählte Roma. Fünf Jahre danach interessiert sich kaum jemand für die Angehörigen und die überlebenden Opfer.

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Familie Nagy am Grabmal für die von ungarischen Rechtsterroristen ermordete Éva Nagy (Foto: Verseck/DW)
Familie Nagy am Grabmal für die von ungarischen Rechtsterroristen ermordete Éva NagyBild: DW/K. Verseck

Niemals, sagt Tibor Nagy, habe er sich das vorstellen können - Leute, die losziehen, um andere, zufällig ausgewählte Menschen zu ermorden. Er sagt: "Das war Menschenjagd." In der Stimme des 47-Jährigen ist Entsetzen und Fassungslosigkeit zu spüren, auch nach so vielen Jahren kann er es kaum glauben.

Am 3. November 2008 hatten Rechtsterroristen im nordostungarischen Dorf Nagycsécs nachts sein Haus angezündet und dann auf die Flüchtenden geschossen. Sie ermordeten Tibor Nagys Ehefrau Éva und seinen Bruder József, Tibor Nagy selbst wurde verletzt und überlebte.

Die Morde von Nagycsécs waren die ersten in einer Anschlagsserie, bei der die Täter 2008/2009 insgesamt sechs Roma, darunter einen vierjährigen Jungen, töteten und 55 weitere verletzten. Den letzten Mord verübten sie am 3. August 2009, drei Wochen später wurden sie in der ostungarischen Stadt Debrecen gefasst: vier einschlägige, behördlich bekannte Rechtsextreme.

Das Haus, in dem der Mordanschlag am 3.11.2008 verübt wurde (Foto: Verseck/DW)
Das Haus im Nagycsécs, in dem der Mord verübt wurdeBild: DW/K. Verseck

Versagen der Behörden

Auch am fünften Jahrestag des letzten Mordes hält sich das Interesse der ungarischen Öffentlichkeit und vor allem der politischen Elite deutlich in Grenzen - so wie in den Vorjahren. Die Medien berichten kaum über die Mordserie an Roma. Eine zentrale öffentliche Gedenkfeier für die Opfer und Empfänge oder Besuche von Staats- und Ministerpräsidenten gab es bisher nicht.

Doch Grund genug bestünde: Die meisten Familien sind nach den Morden in tiefes materielles Elend abgerutscht. Viele Opfer werden ihre Leben lang behindert bleiben, andere erkrankten psychisch. Aber nicht nur das. Ähnlich wie im Fall der NSU-Morde in Deutschland tappten die ungarischen Ermittler lange im Dunkeln. Zunächst gingen sie davon aus, es handele sich um Abrechnungen in einem kriminellen Milieu, erst spät verfolgten sie Spuren in die rechtsextreme Szene. Zudem wurden Erkenntnisse lange unkoordiniert ausgewertet - und ungarische Geheimdienste hielten Hinweise, die sie zu den Tätern hatten, zurück.

Verantwortlich für das Versagen der Behörden bei den Mordermittlungen ist die sozialistisch-liberale Regierungskoalition, in deren Amtszeit die Morde verübt wurden. Doch keiner ihrer Vertreter hat die Opfer bisher um Entschuldigung gebeten. Aber auch die national-konservative Orbán-Regierung scheint nicht an zu viel Aufklärung interessiert: Geheime Ermittlungen nach weiteren Mittätern und zu Schlampereien in den Geheimdiensten während der Romamorde ziehen sich seit langem hin.

Roma - Bürger zweiter Klasse

"In Ungarn sind Roma-Angelegenheiten und Roma-Opfer zweitrangige Angelegenheiten", sagt der ehemalige liberale Parlamentsabgeordnete József Gulyás, der 2009 einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu den Morden leitete. "Der Staat tritt gegenüber rassistischen Straftaten nicht entschlossen genug auf, und es gibt auch keine scharfen Äußerungen von politischen Führern gegen diese Straftaten."

Beisetzung eines Opfers der Romamordserie im Dorf Tatarszentgyoergy (Foto: picture alliance)
Beisetzung eines Opfers der Romamordserie im Dorf Tatarszentgyoergy am 3. März 2009Bild: picture-alliance/dpa

Wie eine Illustration für diese Behauptung wirkt derzeit der Vorwahlkampf für die Kommunalwahlen im Herbst. In der ostungarischen Stadt Miskolc, wo viele Roma leben, treten drei gleichermaßen rassistische, romafeindliche Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters an – darunter der Amtsinhaber, der zur Orbán-Partei gehört, ein Rechtsextremer und der Kandidat der sozialistisch-linksliberalen Opposition: Albert Pásztor, ehemals Polizeikommandant des Stadt. Pásztor, der in Miskolc "Ordnung schaffen" will, fiel schon vor Jahren mit antiziganistischen Sprüchen auf. Heute sagt er in Interviews Sätze wie: "Ein bedeutender Teil der Roma kann sich nicht integrieren und ist kriminell."

Unzureichende Hilfe

Gegen solche Äußerungen wie überhaupt gegen Antiziganismus regt sich unter ungarischen Politikern nur wenig Widerspruch. Der calvinistische Pastor Zoltán Balog, derzeit Gesundheits- und Sozialminister in der Orbán-Regierung, ist einer der wenigen ungarischen Politiker, der sich immerhin zu einigen Gesten gegenüber den Opfern der Romamorde entschließen konnte. Er hält jedes Jahr einen Gedenkgottesdienst ab, zu dem er die Überlebenden und Angehörigen einlädt. "Symbolik ist wichtig", sagt Balog und betont zugleich, dass als Konsequenz aus rassistischen Straftaten vor allem Lehrpläne im Bildungswesen geändert werden müssten. "Wir müssen bei den nächsten Generationen mehr Verständnis wecken, als das momentan der Fall ist, da haben wir viel zu tun."

Zoltán Balog initiierte für die Überlebenden und Angehörigen der Romamorde auch eine finanzielle Opferhilfe: Kürzlich bekamen sie von der Regierung jeweils zwischen vier- und siebentausend Euro ausbezahlt. Einige Familien konnten davon ihre ärmlichen Behausungen modernisieren, etwa einen Gas- oder einen Wasseranschluss legen lassen. Andere wollen in bessere Häuser umziehen. Doch nicht wenige Opfer der Mordserie bedürften regelmäßiger monatlicher Unterstützung, etwa um Medikamente und Behandlungskosten zu bezahlen.

Prozess gegen die Rechtsextreme Mörder in Budapest (6.8.2013) (Foto: AFP)
Prozess gegen die rechtsextremen Mörder in Budapest im August 2013Bild: Attila Kisbenedek/AFP/Getty Images

Viele zerstörte Leben

Auch bei Tibor Nagy ist das der Fall. Er erkrankte nach dem Mord an seiner Frau und seinem Bruder an Diabetes, zog weg aus dem Dorf Nagycsécs und lebt zusammen mit seinen beiden Töchtern in einem ärmlich eingerichteten Haus. Von der Opferhilfe der Regierung konnte die Familie Möbel, eine Küche und einen Wasseranschluss bezahlen. Inzwischen ist Tibor Nagy auf einem Auge erblindet. Geld für regelmäßiges Diabetikeressen und für Medikamente hat er nicht, meistens kommt er einmal im Monat auf die Intensivstation eines Krankenhauses. Im Winter haben Nagy und seine Töchter oft kein Brennholz, auch bei Lebensmitteln reicht es nur für das Nötigste.

Tibor Nagy wie auch die anderen überlebenden Opfer der Romamordserie könnten reguläre staatliche Entschädigungen beantragen – wenn denn ein rechtskräftiges Urteil gegen die Täter vorläge. Doch das gibt es noch nicht. Drei der Romamörder wurden im August vergangenen Jahres erstinstanzlich zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt, ein Komplize zu 13 Jahren Gefängnis. Alle haben Berufung eingelegt. Wann jedoch der zweite Prozess beginnt, ist unklar, zudem könnte er sich wegen der noch andauernden geheimen Ermittlungen zu Mittätern und zur Rolle der Geheimdienste lange hinziehen – ebenso wie der erste Prozess, der mehr als zweieinhalb Jahre dauerte.

Die Familie Nagy in ihrem jetzigen Wohnhaus (Foto: Verseck/DW)
Die Familie Nagy in ihrem jetzigen Wohnhaus in einem Nachbardorf - der Ehemann und Witwer Tibor Nagy und die Töchter Krisztina und MáriaBild: DW/K. Verseck

Tibor Nagy wünscht sich, dass die Täter bis ans Ende ihrer Tage im Gefängnis bleiben müssen – auch der Tatkomplize, der als Chauffeur bei den beiden letzten Morden diente und im erstinstanzlichen Prozess mit dreizehn Jahren Haft davonkam. Sehr viel mehr, sagt er mit resignierter Stimme, erwarte er nicht mehr vom Leben. "Die Mörder haben meine Frau und meinen Bruder getötet, und sie haben auch mein Leben zerstört. Ich werde in diesem Leben keine Freude mehr haben."