Ungarn: Was ist Orbans Ukraine-Problem?
9. Dezember 2022"Vetospiel", "außenpolitischer Tiefpunkt", "Amoklauf" - das sind nur einige der Worte, mit denen unabhängige ungarische Medien in diesen Tagen das Veto von Ungarns Premier Viktor Orban gegen die EU-Finanzhilfe für die Ukraine kommentieren. Die Wochenzeitung HVG fragt sich: "Was ist eigentlich das Problem der Orban-Regierung mit dem Ukraine-Kredit?"
Schon seit längerem stand die Frage im Raum, ob Ungarn sein Veto gegen den 18-Milliarden-Euro-Kredit der EU für die Ukraine einlegt. Bis zum Schluss hatten viele europäische Politiker gehofft, dass der ungarische Premier nur bluffen würde. Doch am Dienstag machte Orban seine Drohung dann wahr - und ließ das Finanzpaket in Brüssel blockieren. Kurz darauf behauptete er in einem Tweet, es gebe kein ungarisches Veto: "Das sind Fake News. Kein Veto, keine Erpressung." Ungarn sei bereit, so Orban, die Ukraine auf bilateraler Basis zu unterstützen.
Ob echtes Veto oder nicht - die ungarische Blockade der EU-Finanzhilfe für die Ukraine ist der neueste Tiefpunkt eines schon seit langem problematischen Verhältnisses zwischen Ungarn und seinem Nachbarn. Vor allem seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine gab es solche Tiefpunkte immer wieder: Orban und seine Regierung zögerten nach dem 24. Februar, die russische Aggression zu verurteilen und als völkerrechtswidrig zu bezeichnen. Bis heute spricht Orban von einem "russisch-ukrainischen Krieg". "Das ist nicht unser Krieg", betont Orban immer wieder und sagt, es gehe um einen "Streit, den die betroffenen Seiten selbst miteinander austragen" sollten.
Orbans Kampagne gegen die EU
Jüngst sagte er, Ungarn sei daran interessiert, dass es "zwischen Russland und Mitteleuropa einen souveränen Staat gibt, den wir der Einfachheit halber jetzt Ukraine nennen". Kurz darauf zeigte er sich bei einem Fußballspiel der ungarischen Nationalmannschaft mit einem Schal, auf dem die Umrisse des einstigen Großungarns zu sehen waren - zu dem bis 1918 auch Gebiete der heutigen Ukraine gehörten.
Die EU-Sanktionen gegen Russland trug Ungarn zwar bisher überwiegend mit - nur gegen eine geplante Sanktionierung des Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche, Kyrill, der ein notorischer Kriegshetzer ist, legte Budapest erfolgreich sein Veto ein. Allerdings handelte Orban weitreichende Ausnahmen für sein Land aus, etwa beim Boykott russischen Erdöls. Zudem verurteilt er die Sanktionen immer wieder scharf - derzeit läuft in Ungarn eine offizielle Kampagne, in der die Budapester Regierung die EU beschuldigt, Ungarns Wirtschaft durch die antirussischen Sanktionen zu zerstören. Waffenlieferungen an die Ukraine lehnt Orban ohnehin ab, ungarisches Territorium hat er für Waffentransporte in die Ukraine sperren lassen.
Einst war Orban Unterstützer der Ukraine
Angesichts all dessen stellt sich die Frage: Was ist Orbans Ukraine-Problem? Umso mehr, als Ungarns Premier einst zu einem nachdrücklichen Unterstützer einer demokratischen Ukraine mit euroatlantischen Bestrebungen zählte. So sagte er nach dem Bukarester NATO-Gipfel 2008 - damals noch als Oppositionspolitiker und unter dem Eindruck des russischen Krieges gegen Georgien -, es sei eine schlechte Entscheidung, die Ukraine und Georgien nicht in das westliche Militärbündnis aufzunehmen.
Nachdem Orban 2010 Ministerpräsident Ungarns geworden war, hörten sich seine Positionen bald anders an. Verstimmungen zwischen Ungarn und der Ukraine gab es wegen der ungarischen Minderheit in der westukrainischen Region Transkarpatien - dort lebten damals knapp 200.000 Ungarn, heute sind es wohl noch etwa 130.000. Budapest war beispielsweise unzufrieden mit einem geplanten ukrainischen Sprachgesetz, das in erster Linie den Einfluss des Russischen zurückdrängen sollte, sich aber nach Meinung der Orban-Regierung auch gegen die ungarische Minderheit im Land richtete.
Heimliche Staatsbürgerschaft für Ukrainer
Das Wohlergehen der ungarischen Minderheiten in Ungarns Nachbarländern ist seit jeher ein Anliegen postkommunistischer Budapester Regierungen. Doch die Haltung von Orban ging nach 2010 bald über den gewöhnlichen Rahmen einer solchen Politik hinaus. Nur wenige Wochen nach der russischen Annexion der Krim 2014 forderte Orban in einer programmatischen Rede Selbstverwaltungs- und Kollektivrechte sowie das Recht auf doppelte Staatsbürgerschaft für die ungarische Minderheit in der Ukraine - mit einer Wortwahl, die Spielraum für den Vorwurf des Separatismus ließ.
Wegen der ukrainischen Minderheitenpolitik legte Ungarn seit 2017 mehrfach Vetos gegen NATO-Kooperationen mit der Ukraine ein, das bisher letzte Mal Anfang Februar 2022. Im September 2018 führte das Thema der doppelten Staatsbürgerschaft zu einem schweren diplomatischen Konflikt zwischen Ungarn und der Ukraine: Damals zeigte ein geleaktes Video, wie ukrainische Staatsbürger im ungarischen Konsulat im westukrainischen Berehowe (Beregszasz) heimlich die ungarische Staatsbürgerschaft erhalten - was gegen ukrainisches Recht verstieß.
Wähler, die von Großungarn träumen
Seit damals herrscht diplomatische Eiszeit zwischen Ungarn und der Ukraine. Daran dürfte auch der Besuch der ungarischen Staatspräsidentin Katalin Novak in Kiew Ende November nichts ändern. Novak gilt als loyale Orban-Parteigängerin ohne eigenes Profil. Orban hatte sie wohl nach Kiew geschickt, weil es unhaltbar geworden ist, dass sich seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine kein hochrangiger Budapester Regierungspolitiker in der ukrainischen Hauptstadt hat blicken lassen.
Insgesamt dürfte es dem ungarischen Regierungschef bei seiner Ukraine-Politik jedoch nicht in erster Linie um das Land selbst gehen, sondern um andere innen- und außenpolitische Akzente. Mit seiner ambivalenten Wortwahl bei Autonomie-Forderungen für die ungarische Minderheit in der Ukraine oder zur Staatlichkeit und Souveränität des Nachbarlandes möchte Orban vor allem weit rechts stehende Wähler in Ungarn ansprechen, die noch immer von einem Großungarn in den Grenzen von 1918 träumen.
Druckmittel und Erpressung im Streit mit der EU
Außenpolitisch haben gute Beziehungen Ungarns zu Russland für Orban einen größeren Stellenwert als ein gutes Verhältnis zur Ukraine - denn Ungarn ist von russischen Energielieferungen abhängig. Jedes antiukrainische Signal aus Budapest ist insofern auch eine indirekte Loyalitätserklärung an Moskau. Dazu gehören auch wiederholte Andeutungen Orbans über eine westliche "Schuld" am Krieg Russlands gegen die Ukraine. Ungarns Regierungschef scheint zunehmend der Überzeugung zu sein, dass "der Westen" und insbesondere die USA Russland in den Krieg gegen die Ukraine gedrängt hätten und nun dort einen Stellvertreterkrieg führten.
Nicht zuletzt geht es Orban aber auch darum, im langjährigen Rechtsstaatsstreit mit der EU ein Druckmittel in der Hand zu halten. In diesen Tagen muss die EU entscheiden, ob sie Ungarn wegen Korruption und Rechtsstaatsmängeln Finanzmittel in Milliardenhöhe entzieht. Auch wenn Orban es abstreitet - kaum ein EU-Politiker bezweifelt, dass Ungarn die Europäische Union mit dem Veto gegen die Ukraine-Finanzhilfe erpresst.
In der Summe lässt sich sagen: Die Ukraine ist seit langem eine Geisel von Orbans Innen- und Außenpolitik. Derjenige, der davon am meisten profitiert, ist allerdings nicht Ungarns Regierungschef selbst, sondern jemand anders: der russische Staatspräsident Wladimir Putin.