Feindbild "Genderwahnsinn"
19. Oktober 2018Ungarns Vizepremier Zsolt Semjén hatte es bereits Mitte August in einem Interview indirekt angekündigt: das Ende der Geschlechterforschung als Lehrfach an ungarischen Universitäten. Niemand wolle "Genderologen" beschäftigen, deshalb brauche man auch keine auszubilden, so Semjén damals, der Begriff des "sozialen Geschlechts" sei ein "Unding".
Nun wurde das Lehrfach Geschlechterforschung tatsächlich offiziell abgeschafft: Am vergangenen Samstag trat eine von Ungarns Premier Viktor Orbán unterzeichnete Regierungsverordnung in Kraft, mit der das Fach Gender Studies von der Liste der Masterstudiengänge gestrichen wurde. Nur noch bereits begonnene Studiengänge dürfen zuende geführt werden – dann ist das Lehrfach an ungarischen Universitäten praktisch verboten.
Derzeit wird Geschlechterforschung als Masterstudiengang an zwei ungarischen Universitäten angeboten: an der staatlich finanzierten Budapester Eötvös-Loránd-Universität (ELTE), der ältesten ungarischen Hochschule, sowie an der Central European University (CEU), die von der Open-Society-Stiftung des ungarisch-amerikanischen Börsenmilliardärs George Soros finanziert wird. An beiden Hochschulen haben jeweils rund 20 Studenten den Masterkurs belegt.
Im Bannstrahl reaktionärer Familienpolitik
Ein ganzes Lehrfach selbst an nicht-staatlich finanzierten Universitäten nicht mehr zuzulassen, mag absurd wirken, doch es ist in Ungarn Ausdruck eines seit langem stattfindenden ideologischen und Kulturkampfes und einer reaktionären Familienpolitik. Ein großer Teil von Ungarns regierender Elite ist überzeugt, dass im westlichen Europa der Untergang des christlichen Abendlandes droht, weil dort Werte wie Familie, Heimat und Nation nicht mehr hochgehalten würden. Im Westen, so formuliert es Ungarns Vizepremier Semjén, hätten Linksliberale, Freimaurer, islamistische Migranten und "sexuelle Abweichler" jegliche "Normalität" abgeschafft, Ungarn widersetze sich dem und ermögliche "ungarisches Leben". Nach dieser Logik ist auch das Fach Geschlechterforschung Teil des zivilisatorischen Verfalls, der in Europa droht und den Ungarn im eigenen Land aufzuhalten versucht.
An der Eötvös-Loránd-Universität war der Masterstudiengang Gender Studies erst im vergangenen Herbst eingeführt worden – schon damals zur großen Empörung der ungarischen Regierung. Bence Rétvári, der zuständige Staatssekretär im Ministerium für Humanressourcen (EMMI), das für Soziales, Bildung, Kultur, Familie, Sport und Jugend verantwortlich ist, hatte in diesem Zusammenhang gesagt, der Inhalt des Faches stehe der "Wertewelt der Regierung" diametral entgegen. Sein Ministerium hatte deshalb an der staatlichen Corvinus-Universität in Budapest den Masterstudiengang "Familienstudien" eingeführt – als Gegengewicht zu den Gender Studies.
Im weitesten Sinne geht es dabei auch um Demographie und Familienpolitik. Der ungarische Parlamentspräsident László Kövér, formal der zweite Mann im Staat, ein alter Freund und Vertrauter Viktor Orbáns und in der Orbán-Partei Fidesz einer der maßgeblichen Ideologen, hatte bereits 2015 verkündet, das Ungarn den "Genderwahnsinn" ablehne. "Wir möchten, dass unsere Mädchen es als höchste Qualität ihrer Selbstverwirklichung betrachten, wenn sie uns Enkel gebären", hatte Kövér damals auf einem Fidesz-Kongress gesagt. Letztes Jahr hatte der damalige Fidesz-Vizepräsident Szilárd Németh gefordert, das ungarische Frauen das Land "zugebären" müssten, damit man ein "Bevölkerungswachstum produziere". Ungarns Premier Orbán will in den kommenden Wochen eine neue nationale Kampagne starten, um den demographischen Niedergang Ungarns aufzuhalten.
Teil eines größeren Kulturkampfes
Der Feldzug gegen die Geschlechterforschung ist derzeit nur der sichtbarste Teil eines Kulturkampfes ungarischer Regierungskreise, der seit einigen Monaten läuft. Er richtet sich gegen Schriftsteller, Künstler und Musiker mit regierungskritischen Positionen, aber auch gegen gemäßigte Vertreter aus dem Umfeld der Regierungspartei Fidesz wie den ehemaligen Vize-Staatssekretär im ungarischen Außenministerium Gergely Pröhle. Er wurde vor kurzem als Leiter des Budapester Petöfi-Literaturmuseums (PIM) abgesetzt, weil er, wie die Regierungszeitung Magyar Idök geklagt hatte, auf Kosten ungarischer Steuerzahler Literaten eingeladen hatte, die Ungarn verleumden würden. Ungarns Premier Viktor Orbán hatte die kulturpolitische Offensive seiner Regierung Ende Juli in einer programmatischen Rede verteidigt und ab Herbst "große Veränderungen" in Form einer geistig-kulturellen Wende gegen die "68er Elite" angekündigt.
Es ist nicht die erste derartige kulturpolitische Offensive. Bereits 2010/2011, wenige Monate nach dem ersten Zwei-Drittel-Wahlsieg Orbáns, wurden Dutzende bekannte liberale Intellektuelle und Akademiker aus staatlichen Universitäten entlassen oder herausgedrängt. Die Kampagne gegen sie gipfelte im "Philosophenprozess", einer Ermittlung gegen prominente Philosophen wie Ágnes Heller wegen angeblicher Veruntreuung von Forschungsgeldern – Vorwürfe, die die Orbán-Regierung später zurücknehmen musste.
Inzwischen sind in Ungarn an staatlichen Universitäten und kulturpolitischen Einrichtungen praktisch kaum noch Mitarbeiter beschäftigt, die öffentlich regierungskritische Positionen vertreten. Nun gehe es darum, urteilte vor kurzem der linke Philosoph und frühere antikommunistische Bürgerrechtler G.M. Tamás in einem Kommentar für die Wochenzeitung hvg, nicht nur linke, sondern auch noch die gemäßigt konservativen Intellektuellen aus der Öffentlichkeit zu verdrängen – Ungarns reaktionäre Staatsführung betrachte alle, die sich nicht in den Rahmen ihrer nationalen Propaganda einfügten, als "Artfremde" und "Unzucht Treibende", so Tamás.