Kriegsgefangene: Ungarns seltsamer Deal mit Russland
27. März 2024Sie erzählen vom täglichen erniedrigenden Singen der russischen Hymne. Vom miserablen Essen. Von den Schlägen. Von den Augenblicken, in denen sie dachten, sie würden erschossen werden.
Sie erzählen in kurzen Sätzen. Oft blicken sie zu Boden und schweigen. Es ist bedrückend.
"Nach der Rückkehr habe ich Beruhigungsmittel bekommen", berichtet Iwan, einer der beiden. Der andere, Andrij, sagt: "Ich schlafe erst seit kurzem wieder normal."
Später werden beide sagen, dass sie ihren Weg genauso wieder gehen würden.
Uschhorod, ein kleines, schmuckloses Büro im Zentrum der westukrainischen Stadt, 120.000 Einwohner, gelegen direkt an der Grenze zur Slowakei. Andrij und Iwan haben sich zu einem Treffen und einem Gespräch mit der DW bereit erklärt. Sie sind zwei jener elf ukrainischen Soldaten vermeintlich ungarischer Abstammung, die im Juni 2023 aus der Kriegsgefangenschaft in Russland nach Ungarn überstellt wurden. Es ist das erste Mal, dass sich jemand aus der Gruppe der Elf öffentlich äußert.
Keine ungarischen Wurzeln
Der Fall erregte damals aus mehreren Gründen internationales Aufsehen: Zum einen gab die ungarische Regierung zu, ukrainische Behörden nicht über die Freilassung informiert zu haben. Die Angelegenheit führte deshalb zu einem diplomatischen Eklat zwischen der Ukraine und Ungarn - denn völkerrechtlich muss bei einer Gefangenenüberstellung an Drittstaaten das Heimatland der Betroffenen informiert werden.
Zum anderen stellte Ungarns Regierung unter Premier Viktor Orban die Gefangenenfreilassung damals als humanitäre Aktion dar, mit der man Angehörigen der ungarischen Minderheit aus der westukrainischen Region Transkarpatien geholfen habe. Dort leben etwa 80.000 bis 100.000 ethnische Ungarn.
Doch im Gespräch der DW mit den beiden ehemaligen Kriegsgefangenen stellt sich heraus: Nur einer der elf Freigelassenen ist ethnischer Ungar. Mehr noch: Die beiden Kriegsgefangenen berichten im Gespräch, dass sie vor ihrer Überstellung nach Ungarn vom russischen Geheimdienst dazu aufgefordert worden seien zu behaupten, sie seien Ungarn. Auch in einem weiteren Punkt widersprechen die beiden der damaligen ungarischen Darstellung: Ihnen sei gesagt worden, sie sollten nicht in die Ukraine zurückkehren, da andernfalls weitere Freilassungen von Kameraden nicht möglich seien. Ungarische Regierungsvertreter hatten damals behauptet, die elf Männer seien freie Menschen und könnten selbst entscheiden, wohin sie gingen.
"Wir dachten, sie erschießen uns"
Andrij und Iwan heißen in Wirklichkeit anders. Sie erzählen ihre Geschichte unter der Bedingung der Anonymität. Nichts, was sie identifizieren könnte, soll veröffentlicht werden. Der DW ist ihre Identität bekannt.
Andrij und Iwan stammen beide aus Transkarpatien. Vor ihrer Gefangenschaft kannten sie sich nicht. Andrij war vor Beginn des vollständigen russischen Angriffs auf die Ukraine im Februar 2022 als Berufskraftfahrer tätig. Iwan ist verheiratet und hat zwei kleine Kinder, er arbeitete vor Februar 2022 im EU-Ausland. Beide haben keine ungarische Wurzeln, sie betrachten sich als Ukrainer.
Im Frühjahr 2022 meldeten sie sich unabhängig voneinander freiwillig zum Militäreinsatz. Sie hätten ihre Heimat verteidigen wollen, sagen sie. Schon wenige Monate später, im Juni 2022, gerieten sie in der Ostukraine in der Region Luhansk bei einem Gefecht in Gefangenschaft. Bei der Frage nach den Einzelheiten versteinern ihre Gesichter. "Wir dachten, sie erschießen uns", sagen sie. Mehr möchten sie darüber nicht erzählen.
Interniert in einem Foltergefängnis
Sie kamen in ein Gefangenenlager in Suchodilsk, ein Ort in der Oblast Luhansk, im seit 2014 russisch besetzten Osten der Ukraine nahe der russischen Grenze. Das Lager, bis 2014 die ukrainische Justizvollzugsanstalt 36, wird in Berichten ukrainischer Menschenrechtsaktivisten, die Zeugnisse ehemaliger Gefangener sammeln, als Ort beschrieben, an dem Insassen systematisch erniedrigt, misshandelt und gefoltert werden.
Auch darüber möchten Andrij und Iwan nicht ausführlich sprechen. "Von Zeit zu Zeit wurden wir geschlagen", sagt Andrij. Jeden Morgen hätten sie die russische Nationalhymne singen müssen. Wer nicht mitgesungen habe, sei bestraft worden, mit Prügel. Insgesamt seien etwa 500 Gefangene im Lager gewesen. Die Verpflegung sei kaum genießbar gewesen, berichten Andrij und Iwan, sie habe aus Grütze oder Suppe mit verdorbenem Gemüse bestanden, "gerade genug, um am Leben zu bleiben". Andrij, großgewachsen und stämmig, sagt, er habe während der einjährigen Gefangenschaft 30 Kilo abgenommen. Iwan, der ohnehin sehr schmal und dünn ist, verlor zehn Kilogramm.
Im Juni 2023, fast genau ein Jahr nach ihrer Gefangennahme, wurden Andrij und Iwan zusammen mit einigen anderen mit verbundenen Augen und gefesselt in einen Lastwagen gepackt und auf eine anderthalbtägige Fahrt geschickt. "Ich dachte, sie bringen uns in ein anderes Lager oder sie fahren uns zur Erschießung", sagt Andrij.
"Ich sollte sagen, dass ich Ungar bin"
Stattdessen kamen sie nach Moskau. Dort eröffneten ihnen Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes, dass sie nach Ungarn freigelassen werden würden. Es gab eine Bedingung. "Ich sollte sagen, dass ich Ungar sei", berichtet Andrij. "Wenn nicht, würde ich zurückgebracht werden." Er zuckt mit den Schultern. "Ich habe zugestimmt."
Am 8. Juni 2023 wurden sie von Moskau nach Istanbul ausgeflogen, von dort aus ging es weiter nach Budapest. Dort seien sie am Stadtrand in ein hotelartiges Gebäude gebracht worden. Wohin genau, können Andrij und Iwan nicht sagen. Sie seien gut behandelt worden, erzählen die beiden. Man habe ihnen Telefone gegeben, um ihre Angehörigen anzurufen, sie hätten auch keine Ausgangsbeschränkungen gehabt. Allerdings sei ihnen gesagt worden, sie sollten bis zur Beendigung des Krieges nicht in die Ukraine zurückkehren.
Andrij und Iwan wissen nicht, wer auf ungarischer Seite die Leute waren, die mit ihnen sprachen. Ungarns Vize-Premier Zsolt Semjen sagte damals in einem Interview mit einem ungarischen Nachrichten-Portal, Mitarbeiter des Ungarischen Maltesischen Wohltätigkeitsdienstes (MMSZ), einer katholischen Hilfsorganisation, hätten sich um die Betreuung der Freigelassenen gekümmert. Die DW sandte dazu und zu den weiteren Umständen der Gefangenenübergabe eine detaillierte Anfrage an die ungarische Regierung. Sie blieb unbeantwortet.
"Schmutzige Operation des Kreml"
Über Andrijs und Iwans Familienangehörige erfuhr die damalige Regierungsbeauftragte für vermisste Personen in der Region Transkarpatien, Vlasta Repasi, von den Gefangenen in Ungarn. Sie koordinierte zusammen mit der ukrainischen Botschaft in Budapest die Rückkehr eines Teils der freigelassenen Gefangenen. Insgesamt seien fünf von ihnen bis Ende Juni 2023 in die Ukraine zurückgekehrt, darunter auch der einzige mit ungarischen Wurzeln. Die sechs anderen seien später aus Ungarn in andere EU-Länder gereist. Unter den Rückkehrern, berichtet Repasi, sei einer in psychiatrischer Behandlung, ein anderer sei infolge einer Lungenkrankheit verstorben, einer sei wieder an der Kriegsfront im Einsatz.
Schon bald nach dem Abschluss des Deals herrschte im offiziellen Ungarn Schweigen, die Orban-Regierung schlachtete den Fall propagandistisch nicht aus. Der ukrainische Politologe Dmytro Tushanskyj, der in Uschhorod das Institut für Mitteleuropäische Strategie (ICES) leitet, glaubt zu wissen, warum. Das Ganze sei "eine schmutzige hybride Spezialoperation des Kreml" gewesen, um die Einheit des Westens bei der Unterstützung der Ukraine zu untergraben, so Tushanskyj zur DW. Der Fall zeige, dass Ungarn nicht als der Verbündete in der EU und der NATO handele, der er formal sei, sondern "eine direkte Bedrohung für die Sicherheit und die Einheit der EU und der NATO" darstelle, meint Tushanskyj.
"Wir lieben unser Land"
Andrij und Iwan leben heute unter sehr bescheidenen materiellen Bedingungen. Sie haben nach ihrer Rückkehr einige Monate in einem Rehabilitationsprogramm verbracht. Offiziell sind sie weiterhin Soldaten. Da es in der Ukraine noch kein Demobilisierungsgesetz gibt, ist unklar, was mit ihnen geschehen wird. Iwan möchte sich um seine schwerkranke Frau und seine Kinder kümmern und im zivilen Sektor arbeiten. Andrij ist unentschlossen - er wartet darauf, entweder einen neuen Einberufungsbefehl zu bekommen oder ausgemustert zu werden. Wann das geschehen könnte, ist unklar.
Andrij und Iwan klagen über nichts. Es ist bedrückend, wenn sie auf Fragen schweigen. Aber sie wirken nicht wie gebrochene Menschen. Sie strahlen eine große Würde aus.
Wie erscheint ihnen ihre eigene Geschichte, wenn sie zurückblicken? "Es ist eine Erfahrung", sagt Iwan lächelnd. Andrij nickt.
"Wir sind zurückgekehrt, weil wir nicht das Gefühl haben wollten, Verräter zu sein", sagen die beiden. "Dies ist unser Land, wir lieben es. Und wir würden alles noch einmal genauso machen."