Meinungsfreiheit in der Türkei
1. August 2016Seit dem Putschversuch in der Türkei Mitte Juli finden jeden Tag kleinere "Demonstrationen für Demokratie" in Ankara und Istanbul statt. Wie bei der Kundgebung in Köln, bei der - je nach Quelle - zwischen 20.000 und 40.000 Menschen für Erdogan auf die Straße gingen, schwenken auch hier fast alle Demonstranten die rote Flagge der Türkei und singen Loblieder auf die Regierung.
Mitten im Fahnenmehr steht Nilgun Coskun, eine 31-jährige Grundschullehrerin. Sie bezeichnet sich selbst als Regierungsunterstützerin und sagt, dass noch kein Militärputsch gut für die Türkei war. Sie sei froh, dass auch Türken in Europa ihre Unterstützung für den "Triumph der Demokratie" und für Erdogan zeigten, so die Tochter eines pensionierten Polizisten.
"Ich denke auch, dass Erdogan autoritär ist, aber er ist nicht undemokratisch", so Coskun. "Der Westen ist gegen Erdogan, weil er ein Muslim ist, aber die meisten der Gesetze, die er verabschiedet, sind denen in Europa sehr ähnlich." Erdogan habe die türkische Wirtschaft "nach vorn gebracht" und das Land verbessert, so die Lehrerin und will wissen: "Was ist daran falsch?"
Coskun glaubt, dass Europäer es nicht gern sehen, dass die Türkei immer unabhängiger werde - und Erdogan sei unbeliebt, weil er der Motor hinter diesem Streben nach Unabhängigkeit sei.
"Regierungsunterstützer haben uns die Straße weggenommen"
Auch die Hausfrau Zehran Dikmen ist zur Kundgebung in Ankara gekommen, um zu zeigen, dass sie ihren Präsidenten unterstützt. Jedes Land könne seine eigenen Regeln festlegen - das würden europäische Länder beim Umgang mit der Türkei offenbar vergessen, glaubt Zehran Dikmen. "Es gibt ja auch Deutsche, die hier in der Türkei leben. Und sagen wir denen, was sie tun können und was nicht? Nein!", so Dikmen. "Wir würden ihnen erlauben, zu demonstrieren wann und wie auch immer sie wollen." Erdogan habe nichts Schlechtes für die Türkei getan, so Dikmen weiter. "Ich würde mein Leben für ihn opfern. Wir alle sind bereit, für ihn zu sterben, wenn er das wollte."
Solche Aussagen besorgen viele Menschen in Ankara, auch Murat Ertas. Der 25-jährige Philosophiestudent arbeitet als Barkeeper in der Nähe des Platzes, an dem die Pro-Erdogan-Demo stattfindet. Er sagt, die Regierungsunterstützer hätten Menschen mit anderen Meinungen "die Straße weggenommen".
Die Deutschtürken, die am Sonntag in Köln auf die Straße gingen, seien Machthabern gegenüber zu unkritisch eingestellt, glaubt Murat Ertas: "Türken lieben Menschen mit Macht und sie fühlen sich in deren Schatten wohl. Ein Machtwechsel macht ihnen Angst", so der Student. Er glaubt, dass Erdogan eine wichtige Rolle in der Weltpolitik spielen will, und dass Türken ehrgeizige Politiker lieben, die bereit sind, Risiken einzugehen.
Türkische Interpretation von Demokratie
"Er ist autoritär, weil es funktioniert", meint Murat Ertas. "Das mag in der EU oder in den USA nicht funktionieren, aber in der Türkei ist das der beste Weg, um an der Macht zu bleiben." Die Mehrheit der Türken wünsche sich eine westliche Demokratie, aber man bewege sich erst langsam darauf zu. "Vielleicht ist der Nationalismus, den wir jetzt sehen, ja auch ein Schritt in diese Richtung", so der Philosophiestudent.
Das Wort "Demokratie" sei zuletzt so oft benutzt worden, dass das Konzept in der Türkei nur noch wenig mit seiner ursprünglichen Bedeutung zu tun habe. Nun stünde es für eine türkische Interpretation eines populistischen Regierungsstils. Es sei schwierig vorherzusehen, wohin sich die Demonstrationen und Erdogans Unterstützer entwickeln würden.
Auch Mete Asar hat sich unter die fahnenschwenkende Menschenmenge gemischt. Allerdings nur zum "Beobachten" und nicht, um Erdogan zu unterstützen, wie er sagt. Nach seiner eigenen politischen Einstellung gefragt, weist der 43-Jährige auf einen entscheidenden Unterschied zwischen Demonstrationen in Deutschland und denen in seinem Heimatland hin: "In Deutschland können die Leute offen ihre Meinung sagen, nicht so in der Türkei." Er rede nicht gern über bestimmte Dinge, da man nie wisse, wer zuhöre: "Vielleicht ist ja gerade die Geheimpolizei in der Nähe."
Während des Putschversuches sei er in Griechenland im Urlaub gewesen, so Asar. "Dort konnte ich einfach nur ich selbst sein. Ich konnte durchatmen. Aber hier muss ich mich als jemand ausgeben, der ich nicht bin, um sicher zu sein." Es gebe jetzt in der Türkei eine Generation, die wisse, wie sich Freiheit anfühle und die die Menschenrechte respektiere, sagt Asar. "Das ist eine große Gruppe, aber ich weiß nicht, warum sie sich nach dem Putsch nicht mehr Gehör verschafft haben. Vielleicht werden sie von den Regierungstreuen übertönt." Er schaut zwischen den schwenkenden roten Fahnen auf: "Eines Tages würde ich gern in einem Land mit demokratischen Idealen und Respekt vor Menschenrechten leben."