Unvollendete Unabhängigkeit
5. Juli 2012Algerien hat seinen politischen Mittelpunkt für ein paar Tage verlegt. Der Badeort Sidi Fredj, westlich von Algier (Artikelbild), ist das Zentrum der Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Unabhängigkeit von der "Grande Nation". Präsident Abdelaziz Bouteflika leitete das Fest am Mittwochabend ein. Mit einem tagelangen Tanz- und Musikspektakel mit rund 800 Schauspielern, Tänzern, Sängern und Folkloregruppen gedenkt das Land dem blutigen Kampf gegen die französische Besatzung. Feuerwerke erleuchteten den Himmel über Algerien, grün-weiß-rote Flaggen säumen die Straßen von Algier. Am Denkmal der Märtyrer in der Hauptstadt wird ein Kranz niedergelegt. Bis Samstag wollen die Algerier feiern.
Gespaltene Bevölkerung
Das nordafrikanische Land hatte am 5. Juli 1962 nach 132 Jahren unter französischer Kolonialherrschaft seine Unabhängigkeit erklärt. Vorausgegangen war ein achtjähriger, blutiger Krieg zwischen Frankreich und Algerien. Vor 50 Jahren einte das Land der Wunsch nach Unabhängigkeit und einer gemeinsamen Identität als Algerier. Heute jedoch gilt die Bevölkerung als gespalten. Auf der einen Seite die ältere Generation, die der gefallenen Freiheitskrieger und der Hunderttausend Toten des Unabhängigkeitskrieges gedenkt. Auf der anderen Seite eine frustrierte Jugend. Wie in den Ländern des Arabischen Frühlings ist die Arbeitslosigkeit hoch unter den jungen Algeriern und der Wunsch nach Demokratie entsprechend groß.
Doch anders als etwa in Tunesien, dem Nachbarland und Ursprungsland der Arabischen Revolution, scheint der Arabische Frühling an Algerien vorbeizuziehen. Dabei gab es vor rund eineinhalb Jahren, als auch in Algerien zahlreiche Demonstranten gegen hohe Lebensmittelpreise und Jugendarbeitslosigkeit auf die Straße gingen, durchaus einen Anflug von Revolte in Algerien. Diese entwickelte sich jedoch nicht zu einer Massenbewegung wie in anderen arabischen Ländern.
Nicht allen Algeriern ist zum Jubeln zumute
Wie für Tahar Belabes, Sprecher des nationalen Komitees zur Verteidigung der Rechte der Arbeitslosen, ist für viele Algerier der 5. Juli daher kein Jubeltag. Anstelle der grün-weiß-roten Fahne der Unabhängigkeit Algeriens will Belabes mit einer schwarzen Flagge auf die Straßen von Algier gehen, um seinem Ärger Luft zu machen: “Wir wollen unsere Verachtung gegenüber der Haltung des Staates zeigen und gegen Arbeitslosigkeit, Ungerechtigkeit und die Mafia demonstrieren, die uns beherrscht“.
Die Gründe, warum es in Algerien (bisher) keine Revolution gibt sind vielfältig: Zum Einen hat das Land riesige Erdöl- und Erdgasvorkommen und damit eine volle Staatskasse. Präsident Abdelaziz Bouteflika bedient sich daraus, um sein Volk mit Subventionen für Grundnahrungsmittel zu besänftigen. Zum Anderen haben viele Algerier Angst, ein Konflikt wie der in den 90er Jahren könnte sich wiederholen. Damals starben bei Kämpfen zwischen Regierungsanhängern und Islamisten zwischen 100 000 und 200 000 Menschen. Dieser Bürgerkrieg macht viele Algerier bis heute vorsichtig gegenüber Revolten. Bei vielen jungen Algeriern, Intellektuellen, Wissenschaftlern und Oppositionsvertretern schwindet die Hoffnung auf mehr Mitbestimmung und wirtschaftlichen Aufschwung.
nem/gmf (dpa,afp)