Rechtliche Grauzone
24. September 2014Barack Obama hat sich - so lange er konnte - gegen die Entscheidung gesträubt, in Syrien militärisch einzugreifen. Vergangenes Jahr blies der US-Präsident sogar in letzter Minute einen Vergeltungsangriff für den mutmaßlichen Einsatz von Chemiewaffen durch das Assad-Regime ab. Die syrische Regierung hatte zuvor erklärt, ihr Chemiewaffenarsenal zu vernichten.
In den vergangenen zwei Wochen kam die unerwartete Kehrtwende: Erst legte die Obama-Regierung ein Programm zur Ausbildung und Bewaffnung syrischer Kämpfer auf. Dabei hatte der Präsident sich selbst nur kurz zuvor wiederholt herablassend über Forderungen geäußert, aus syrischen "Bauern oder Lehrern oder Apothekern" eine schlagkräftige Truppe zu formen. Mit den Luftangriffen und der direkten militärischen Beteiligung am Syrien-Konflikt geht Obama nun aber sogar einen deutlichen Schritt weiter.
Bislang versuchte der Verfassungsrechtler und Friedensnobelpreisträger, sich von seinem Vorgänger durch eine eher multilateral ausgerichtete Außenpolitik zu unterscheiden und das Handeln der USA möglichst in Einklang mit internationalem Recht zu bringen. Der US-geführte Militär-Einsatz in Libyen ist dafür ein gutes Beispiel.
Keine klare juristische Rechtfertigung
Aufgrund dieser Vorgeschichte ist es bemerkenswert, dass Obama bislang keine juristische Begründung für seinen Beschluss gegeben hat, Luftangriffe gegen den IS in Syrien zu fliegen.
"Die Vereinigten Staaten haben keine klare juristische Theorie für ihr Verhalten vorgebracht", sagte Nehal Bhuta, Völkerrechtler am European University Institute in Florenz der DW. "Vielmehr hat Samantha Power, die UN-Botschafterin der Vereinigten Staaten, sogar betont, dass sie Optionen diskutiert hätten, aber dass es noch genügend Zeit gebe, darüber zu sprechen. Deshalb glaube ich, dass sie sich explizit weigern, eine juristische Grundlage für diese Angriffe zu formulieren."
Aus den bisherigen Äußerungen der US-Regierung zu den Angriffen auf Syrien lässt sich jedoch ableiten, dass Washington sein Handeln als eine Form der kollektiven Selbstverteidigung betrachtet.
Stephen Vladeck, ein Rechtsexperte für nationale Sicherheit an der American University in Washington, beschreibt die Denkweise der Regierung so: "Die Obama-Administration schützt Syrien, schützt das Assad-Regime, schützt den Westen, schützt Irak vor der Bedrohung durch den 'Islamischen Staat' - und dies ist eine zulässige Ausübung der Selbstverteidigung laut UN Charta und es ist eine zulässige Ausübung der Selbstverteidigung nach Artikel 2 der US-Verfassung zur Landesverteidigung - auch ohne Zustimmung des Kongresses."
Kontroverses Konzept
Für die Zurückhaltung der US-Regierung, die Luftangriffe in Syrien nach internationalem Recht zu legitimieren, gibt es einen einfachen Grund. Das Konzept der kollektiven Selbstverteidigung ist juristisch umstritten.
"Die Idee der kollektiven Selbstverteidigung ist höchst kontrovers und noch nicht ausgereift", sagt Vladeck. "Es gibt dafür unter Völkerrechtlern durchaus auch Unterstützung, aber sie ist nicht so eindeutig, wie sie es wäre, wenn die USA auf einen direkten Angriff auf US-Territorium antworten würden."
Die juristische Kernfrage lautet demnach, unter welchen Bedingungen eine nicht-staatliche Gruppe innerhalb eines Landes angegriffen werden darf, wenn dieses Land die Gruppe nicht kontrolliert. Denn nach internationalem Recht ist ein externes Eingreifen nur dann erlaubt, wenn das betreffende Land nicht Willens oder nicht in der Lage ist, die Bedrohung selbst zu beenden.
Zwar ist die praktische Anwendung des Konzepts naturgemäß nicht einfach. Dennoch ist es den USA gelungen, diese Theorie verhältnismäßig erfolgreich als Begründung für Luftangriffe in Teilen von Pakistan, Jemen, Somalia und Irak anzuführen. Aber mit Syrien verhält es sich anders.
Zweifelhafte Legalität
"Syrien ist ein viel heiklerer Fall", betont Vladeck. Das Assad-Regime sei zwar möglicherweise nicht willens oder nicht fähig, den IS zu bekämpfen. Ein Grund dafür beruhe auf der Tatsache, dass der Westen es ihm so schwer wie möglich gemacht habe, mit Bedrohungen dieser Art fertig zu werden.
Obwohl das Konzept sehr umstritten ist, sieht Bhuta in der kollektiven Selbstverteidigung für die Obama-Regierung noch die beste Möglichkeit, die Luftangriffe in Einklang mit internationalem Recht zu bringen. Dennoch sei dies von "zweifelhafter Legalität".
"Es ist eine schwierige Entscheidung für Obama, aber es ist wichtig zu verstehen, dass diese Entscheidung in vielerlei Hinsicht eine Folge seines eigenen politischen Handelns und des Handelns des Westens ist", ergänzt Bhuta.
Sein Kollege Vladeck ist überzeugt, dass sich die Obama-Regierung ihrer angreifbaren juristischen Position bezüglich der Luftangriffe in Syrien bewusst ist. Seiner Ansicht nach spiegelt sich diese juristische Unsicherheit auch im Vorgehen der USA in Syrien wider.
"Ich glaube, dass dies teilweise der Grund ist, warum wir zumindest kurzfristig nur begrenzte Luftangriffe sehen werden und keine Ausweitung der Kampfhandlungen von US-Seite - bis es entweder eine eindeutigere Rechtslage für eine Ausweitung gibt oder sich die Umstände vor Ort deutlich ändern."
Die Rolle Syriens
Und das kann jederzeit passieren. "Die wirkliche Frage lautet nicht, ob Völkerrechtler von der US-Argumentation überzeugt sind, sondern ob die deutsche, die britische oder die französische Regierung davon überzeugt ist und letztendlich, ob die syrische Regierung sich dagegen ausspricht", betont Vladeck.
Bislang hat sich das Assad-Regime, trotz einiger pflichtgemäß ablehnenden Bekundungen, verhältnismäßig ruhig verhalten. Sollte sich dies ändern und Damaskus sich lautstark gegen die Angriffe auf sein Territorium wehren, könnte dies schnell zum Einsturz der wackligen juristische Konstruktion der US-Regierung führen.
Die Obama-Administration bewege sich auf dünnem Eis, sagt Vladeck. "Aber sie hat zumindest bisher noch keine Risse verursacht."