"Grass war ein Erneuerer des Romans"
14. April 2015Deutsche Welle: Wie haben Sie die Nachricht aufgenommen, dass Günter Grass und auch der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano gestorben sind?
Mario Vargas Llosa: Mit Trauer, weil es zwei wichtige Schriftsteller waren. Im Fall von Günter Grass muss man sagen, dass er meiner Meinung nach einer der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts war. Vor allem sein Roman "Die Blechtrommel", mit dem er berühmt geworden ist, ist eines der wichtigsten Bücher, die im 20. Jahrhundert geschrieben wurden. Sowohl was die Qualität seiner Sprache angeht, als auch was die Symbolkraft der Geschichte betrifft, die auf eine einzigartige Art und Weise das Drama des Zweiten Weltkriegs reflektiert. Zurecht hat Grass damit weltweite Anerkennung gefunden. Außerdem denke ich, dass Günter Grass einen Schriftsteller repräsentiert, den es immer seltener gibt. Der sich politisch engagierte und der an öffentlichen Debatten aktiv teilgenommen hat. Ich denke, dass dieser Typus in der Gegenwart kaum noch vorhanden ist. Er hat nicht nur durch ein Engagement einen Beitrag geleistet, sondern auch mit der Gewalt seiner Sprache die Vorstellungskraft erweitert. Auch das sollte ein wichtiger Teil der Politik sein.
Im Falle Galeanos - nun, er ist nicht meiner politischen Ansicht, wir waren sozusagen entgegengesetzte Pole, aber das hindert mich nicht anzuerkennen, dass er einen wichtigen intellektuellen Beitrag geleistet und zwei wichtige Zeitschriften geleitet hat. Aber ich denke, dass seine Thesen zu Lateinamerika absolut verkehrt waren und auch sein Werk "Die offenen Adern Lateinamerikas" ist etwas überschätzt. Das Buch, das ihn so bekannt gemacht hat, ist eine überzogene Darstellung eines Dogmatismus, eines Marxismus, die die Realität Lateinamerikas als Karikatur wiedergibt. Aber Galeano hat natürlich literarisches Talent mit intellektueller Relevanz und seine Teilnahme am zivilen und politischen Leben ist herauszuheben, denn, wie bereits erwähnt, die jüngeren Schriftsteller nehmen diese Rolle nicht mehr wahr.
Beide Schriftsteller waren politisch aktiv. Inwiefern hat Grass' politische Haltung sein Werk beeinflusst?
Grass hat Sachen in seinem Land verteidigt, die ich sehr respektabel finde. Er hat Linke und Kommunisten attackiert, weil er an Demokratie geglaubt hat, er hat die SPD verteidigt. Wir hatten Auseinandersetzungen, weil er meinte, dass Lateinamerika dem Beispiel Kubas folgen sollte. Das ist für mich ein Widerspruch - er verteidigte die Demokratie, aber für Lateinamerika wollte er den Kommunismus. Ich habe gefragt: Was ist der Unterschied zwischen Europa und Lateinamerika, dass wir kommunistische Diktaturen erleiden müssen, aber die Europäer können Demokratie und Pluralismus und Pressefreiheit und die Anerkennung der Menschenrechte genießen? Ich glaube, dass Günter Grass für etwas stand, das leider sehr viele europäische Intellektuelle vertreten haben: Diese zweierlei Wege - für Europa die Demokratie, aber für Lateinamerika die Utopie, mit Guerilleros, Bomben, Bürgerkrieg und Revolution. Diese absolut romantische und falsche Vorstellung haben viele Europäer geschluckt und das hat uns sehr geschadet.
Das war der Grund für den Streit, den wir hatten, aber sonst hatten wir ein sehr herzliches Verhältnis. Der Streit hat unsere Freundschaft nicht unterbrochen. Die Wahrheit ist, dass wir bis zum Schluss Freunde waren, wir hatten ein sehr unterhaltsames Verhältnis.
In einigen Worten - was hat die Welt der Literatur heute verloren?
Ich glaube, das Werk von Günter Grass wird noch lange seine Kraft entfalten, weil er eine große Zahl von Romanen hinterlässt. Titel wie "Die Blechtrommel" und "Hundejahre" werden in Erinnerung bleiben. Es gab aber auch andere Romane wie "Der Butt", die nicht so gut ankamen. Das war ein Buch, an dem er lange gearbeitet hat, das ihm aber nicht richtig gelungen ist. Aber er hat immer an seinem Projekt festgehalten, die Welt des Romans - ihren Stil und ihre Struktur - zu verändern. Ohne jeden Zweifel wird Günter Grass als einer der bedeutendsten Autoren unserer Zeit in Erinnerung bleiben.
Mario Vargas Llosa wurde 1936 in Peru geboren. Er ging 1959 nach Europa und war später, im Jahr 1990, Kandidat für die peruanische Präsidentschaft. Seine politische Haltung führte vom Kommunismus zur bürgerlich-demokratischen Demokratie. 1996 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. 2010 wurde er mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.