Venezuela: Alle Macht beim Volke
6. Januar 2016Einen Tag vor der konstituierenden Sitzung der neu gewählten Nationalversammlung hatte Staatspräsident Nicolás Maduro einen reibungslosen Ablauf versprochen: Seine Anhänger hatte er aufgerufen, friedlich zu demonstrieren, seinen Innenminister angewiesen, für entsprechende Sicherheitsmaßnahmen zu sorgen.
Die befürchteten Zusammenstöße zwischen rivalisierenden Demonstranten blieben tatsächlich aus. Zum Eklat kam es dann aber doch - allerdings innerhalb der Nationalversammlung.
Mitten in der Sitzung verließen die Abgeordneten der Regierungspartei PSUV (Sozialistische Einheitspartei Venezuelas) geschlossen den Saal. Anlass dafür war, dass der neue Parlamentspräsident Henry Ramos vom Oppositionsbündnis MUD (Tisch der Demokratischen Einheit) dem PSUV-Redner Pedro Carreño abrupt das Wort abgeschnitten hatte. Der sollte eigentlich Kandidaten für zu vergebende Parlamentsämter benennen, rezitierte stattdessen aber den brasilianischen Dichter Darcy Ribeiro.
Große Mehrheit, wenig Macht
Reggie Thompson, Lateinamerika-Analyst des texanischen Stratfor Institute, sieht darin nicht mehr als eine bedeutungslose Episode: "Das ist wohl eher als Theatereinlage zu verstehen, denn als Maßnahme, die zu irgendetwas führen soll, außer die Opposition zu diskreditieren."
Entscheidend für Venezuela ist für Thompson der drohende politische Stillstand: Zwar hat die Opposition mit derzeit 109 von 163 Sitzen eine komfortable Mehrheit im Parlament, aber die Macht der Regierungspartei ist nach wie vor groß. "Venezuela befindet sich in einer politischen Patt-Situation", meint Thompson.
Im präsidialen System Venezuelas kann der Präsident vieles per Dekret entscheiden. Solche Erlasse könnte das Parlament jedoch beschneiden. Es kann auch Misstrauensvoten gegen Minister einleiten. Für beides würde der Opposition ihre derzeitige Mehrheit genügen.
Allerdings hat die PSUV seit ihrer Regierungsübernahme durch Parteigründer Hugo Chávez 1999 praktisch sämtliche Schlüsselämter im Land mit loyalen Beamten besetzt. Insbesondere die Wahlkommission und der Oberste Gerichtshof gelten seit langem als regierungstreu.
Gesetzgebende Gerichtsbarkeit
Vor wenigen Tagen nun änderte Maduro auch noch ein Gesetz, das die Wahl des Zentralbank-Präsidenten aus dem Zuständigkeitsbereich des Parlaments in den des Präsidenten legt. "Damit entzieht er der Nationalversammlung wichtige Kompetenzen bezüglich des Staatshaushalts", erklärt Thompson.
Insbesondere der Oberste Gerichtshof könnte künftig massiv in die Gesetzgebung eingreifen, fürchtet Thompson: "Ob es um Amnestiegesetze für politische Gefangene geht oder um Korruptionsverfahren - sogar wichtige Wirtschaftsreformen des Parlaments kann das Oberste Gericht blockieren."
Venezuelas Gerichtsbarkeit steht seit langem wegen zweifelhafter Urteile gegen Oppositionelle in der internationalen Kritik. Zuletzt schaltete sich die Judikative in die Politik ein, indem sie die Vereidigung der vier Abgeordneten des Bundesstaats Amazonas wegen Unregelmäßigkeiten bei der Wahl untersagte. Drei von ihnen gehören zur oppositionellen MUD, einer zur Regierungspartei PSUV.
Die Macht des Volkes
Dass die Opposition durch diesen Gerichtsentscheid ihre Zweidrittelmehrheit im Parlament - zumindest vorläufig - verliert, hält Stratfor-Analyst Thompson für zweitrangig: "Die wichtigsten Projekte der Opposition hängen von anderen Dingen ab."
Dazu gehört neben den Wirtschaftsreformen auch die Absetzung von Präsident Maduro, wie Parlamentspräsident Ramos in der konstituierenden Sitzung noch einmal betonte. Die wäre nach der Hälfte seiner Amtszeit im kommenden April möglich. Doch darüber entscheiden nicht die Parlamentarier allein, sondern alle venezolanischen Wähler. Für die Organisation eines solchen Referendums wäre wiederum die regierungsnah besetzte Wahlbehörde zuständig.
Die grundlegenden Reformen, die Venezuela braucht, um die anhaltende Wirtschafts- und Versorgungskrise zu überwinden, kann es angesichts der derzeitigen Konstellation nur geben, wenn Regierung und Opposition sich arrangieren. Die erste Parlamentssitzung stellt das nicht gerade in Aussicht. Gerade deshalb hält Thompson die Venezolaner selbst für deren größte Hoffnung: "Das venezolanische Volk ist der Joker: Wenn die Proteste gegen die Regierung wieder anschwellen, dann beginnen selbst Regierungspolitiker in Venezuela umzudenken."