"Verfassungsänderung auf lange Sicht unumgänglich"
19. September 2015Deutsche Welle: Bereits im Dezember 2013 hatte das Kabinett Abe die neue "Nationale Sicherheitsstrategie" und die neuen "Nationalen Verteidigungsrichtlinien" beschlossen. Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die parlamentarische Verabschiedung der Sicherheitsgesetze?
Alexandra Sakaki: Bereits vor Verabschiedung der Sicherheitsgesetze hat die Abe-Regierung deutlich gemacht, dass Japan einen aktiveren Beitrag zur internationalen Sicherheit leisten möchte, wobei der Einsatz militärischer Mittel nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden soll. Mit den neuen Sicherheitsgesetzen soll die rechtliche Basis dafür geschaffen werden. Die neuen Gesetze regeln die Voraussetzungen und Bedingungen für verschiedene Auslandseinsätze der Streitkräfte.
Einen Richtungswechsel der japanischen Sicherheitspolitik unter Abe sehe ich in diesen Parlaments- und Kabinettsbeschlüssen jedoch nicht. Eine genauere Betrachtung zeigt, dass es sich allenfalls um einen symbolischen Wendepunkt handelt. Denn in der Praxis hat die japanische Regierung in den letzten zwei Jahrzehnten ihr militärisches Engagement ausgeweitet, zum Beispiel mit dem Einsatz im Indischen Ozean zur Unterstützung der NATO-Mission in Afghanistan, so dass es der restriktiven Verfassungsinterpretation kaum noch entspricht.
Woher kommt der starke Widerstand in der japanischen Öffentlichkeit, wenn doch diese Dokumente nur die bereits praktizierte Aufweichung der strikt pazifistischen Linie der Nachkriegsverfassung festschreiben? Sind die Japaner zu stark auf Symbole fixiert?
Der Friedensartikel, Artikel 9, hat in Japan in der Tat sehr starke Symbolkraft. Für viele Japaner steht er für den friedlichen Weg, den Japan nach 1945 eingeschlagen hat. Anti-Militarismus in der Bevölkerung prägt auch im heutigen Japan sehr stark die sicherheitspolitische Ausrichtung des Landes. Von außen betrachtet wirkt die derzeitige sicherheitspolitische Debatte aber bizarr: Im Parlament wurden verschiedene Verfassungsrechtler gebeten, ein Urteil darüber abzugeben, ob die neuen Sicherheitsgesetze verfassungsmäßig sind. Doch eigentlich entspricht die Realität schon längst nicht mehr dem Verfassungstext.
Das wird schnell deutlich, wenn man an Japans modern ausgerüstete Streitkräfte denkt. Trotzdem dreht sich die Debatte aber um die Frage der Verfassungsmäßigkeit; Diskussionen über die sicherheitspolitischen Herausforderungen und den Umgang damit findet man hingegen nur am Rande.
Ist mit dem Oberhausbeschluss das Kapitel abgeschlossen, oder ist mit weiteren Schritten Abes zur Änderung oder Anpassung der pazifistischen Nachkriegsverfassung zu rechnen?
Abe hat schon in der Vergangenheit mehrfach deutlich gemacht, dass sein eigentliches Ziel ist, Artikel 9 durch eine Verfassungsänderung neu zu formulieren. Doch dieses Ziel ist nur schwer zu erreichen. Bisher wurde die Verfassung von 1947 noch nie geändert. Für eine Änderung sind nicht nur zwei Drittel der Stimmen in beiden Häusern des Parlaments nötig, sondern auch ein Mehrheitsentscheid bei einem Referendum. Das sind hohe Hürden, insbesondere wenn es um den symbolbehafteten Artikel 9 geht. Und ich glaube, Abe ist sich dessen bewusst.
In den letzten Wochen hat laut Umfragewerten die Unterstützung für die Abe-Regierung angesichts der umstrittenen Sicherheitsgesetze deutlich abgenommen. Ich gehe daher davon aus, dass Abe sich nun erstmal anderen politischen Themen widmen wird, um wieder an Popularität zu gewinnen oder zumindest nicht weiter an Rückhalt zu verlieren. Priorität wird die Änderung von Artikel 9 unter der Abe-Regierung daher wohl kaum haben.
Dennoch ist auf lange Sicht eine Verfassungsänderung fast unumgänglich: Der jetzige Verfassungstext hat einfach zu wenig mit der Realität zu tun, und daher täte es Japan gut, durch eine Anpassung des Verfassungstexts Klarheit über die Einsatzmöglichkeiten der Streitkräfte zu schaffen.
Mit der Neuausrichtung der Verteidigungspolitik ist eine noch stärkere Anlehnung an die USA als bisher schon verbunden. Gleichzeitig ist die US-Präsenz auf den Stützpunkten in Japan stark umstritten, derzeit gibt es wieder neue Proteste gegen die US-Basen auf Okinawa. Wird sich dieser Konflikt zuspitzen, jetzt da sich Abe den Parteivorsitz erneut gesichert und seine Gesetze durchs Parlament gebracht hat?
Danach sieht im Moment in der Tat alles aus. Die Mehrheit der Bevölkerung auf der Insel Okinawa lehnt den Plan der Zentralregierung für einen neuen US-Truppenstützpunkt ab. Bereits jetzt befinden sich etwa drei Viertel der US-Militärbasen in Japan auf Okinawa. Das sieht die lokale Bevölkerung als unfaire Lastenverteilung und fordert, dass der neue Stützpunkt in einer anderen Präfektur erbaut wird.
Das wiederum trifft auf Ablehnung in Tokio und Washington, für die die geographische Lage Okinawas im Südwesten wichtig ist. Die Fronten sind nun verhärtet: Der im November 2014 gewählte Gouverneur der Präfektur Okinawa, Takeshi Onaga, ist klarer Gegner der Stützpunktpläne der Zentralregierung.
Chinas Widerstand gegen die Neuausrichtung ist bekannt, wie steht es mit der Haltung anderer Länder in der Nachbarschaft? Zum einen Südkorea, zum anderen Länder in Südostasien (ASEAN)?
In Südkorea ist man zwiegespalten: Einerseits gibt es Sorgen vor einem militärisch stärkeren Japan, das seine Kriegs- und Kolonialvergangenheit noch nicht adäquat aufgearbeitet hat. Andererseits ist man sich in Seoul aber dessen bewusst, dass Japan und Südkorea beide Allianzpartner der USA sind und ihre bilaterale Beziehung daher von großer Bedeutung ist für die sicherheitspolitische Stabilität auf der koreanischen Halbinsel und in der Region.
In Südostasien gibt es eine ganze Reihe Länder, die die japanische Sicherheitspolitik unter Abe klar unterstützen. Dabei handelt es sich vor allem um Länder, die im südchinesischen Meer im Territorialkonflikt über Inseln mit China liegen, wie beispielsweise die Philippinen und Vietnam. Dort hofft man, dass Japan und die USA ein regionales Gegengewicht zu China bilden und Beijings Expansionsdrang im Südchinesischen Meer eindämmen.
Dr. Alexandra Sakaki ist Ostasien-Expertin der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)