Die Last des jüdischen Erbes
15. Oktober 2021Wer "Tacheles" redet, kommt ohne Umschweife zur Sache. So lautet eine gängige Definition des jiddischen Begriffs, der seinen Ursprung im Hebräischen tachlit (dt. Ziel, Zweck) hat. Auch in der neuen Dokumentation "Endlich Tacheles" der renommierten Berliner Filmemacherinnen Jana Matthes und Andrea Schramm wird Klartext geredet.
"Ich weiß nichts über das Judentum und war trotzdem die Judensau"
"Warum ich der unjüdischste Jude der Welt bin?", fragt darin Yaar, ein junger Jude aus Berlin und Hauptprotagonist des Films. "Fangen wir damit an, dass ich nicht beschnitten bin. Wir haben nie Feste gefeiert, nie koscher gegessen. Meine Freundin ist Deutsche. Ich weiß nichts über das Judentum, kenne nicht mal das Gebet, das an Schabbat gesprochen wird", gibt er zur Antwort und schiebt nach: "Und trotzdem war ich in der Schule manchmal die Judensau." Das sitzt. Es sind diese offenen Worte, die einen nachdenken lassen über ihn, seine Vorfahren, den Holocaust und schließlich über Schuld, Verantwortung und Versöhnung. Was haben junge Leute der dritten Generation heute noch mit der Shoa zu tun, lautet die prekäre Frage, der der Film auf ebenso ungewöhnliche wie emotionale Weise nachgeht.
Leid verarbeiten durch Provokation
Yaar wurde in Jerusalem geboren. Mit fünf Jahren kam er nach Deutschland. Hier wurde er seitens seiner geschiedenen Eltern ständig mit deren Vergangenheit und der seiner Großeltern konfrontiert. Seinem - noch immer traumatisiertem - Vater wirft er vor, am Holocaust zu leiden, den er nicht einmal selbst erlebt hat. Nun will der 21-Jährige Gamedesigner werden.
Aus Rebellion plant er gemeinsam mit seinen Freunden Sarah und Marcel ein Computerspiel mit dem Titel "Als Gott schlief", in dem die Rollen neu gemischt werden: Der Spieler agiert dort in der Funktion eines jüdischen Mädchens und eines Nazis, der Juden beschützt. Das Mädchen ist als Alter Ego von Yaars Großmutter Rina angelegt und soll sich gegen sein Schicksal wehren. Ihr Gegenspieler ist ein von einem Verwandten Marcels inspirierter SS-Offizier. Das Besondere: Yaar will ihm die Rolle eines "menschlichen Nazis" zuschreiben, der Juden rettet, in dem er bei einem KZ-Transport die Zugtüren öffnet.
Von diesem Plot erhofft sich der junge Jude, sich von den Erfahrungen seiner Vorfahren mit dem Holocaust zu befreien. "Provokation ist mein Weg, damit umzugehen", sagt er. Er meint, mit der 80 Jahre zurückliegenden Geschichte nichts zu tun zu haben. Im Zuge der Spielentwicklung reist Yaar nach Israel und Polen - genauer, nach Krakau, die Stadt, aus der seine in Israel lebende Großmutter kam. Hier wird er von seiner eigenen Familiengeschichte eingeholt.
Hadern mit dem jüdischen Erbe
Für das Regie führende Duo war genau dieser Konflikt gefundenes Fressen für einen Film, den es seit einigen Jahren schon zum Thema jüdisches Leben in Deutschland heute machen wollte. In Yaar, der in ihrer Filmfirma ein Praktikum absolvierte, fanden Andrea Schramm und Jana Matthes ihren idealen Kandidaten für den Film. "Zunächst sollte er das Thema recherchieren. Von Anfang an aber merkten wir, dass ein ungeheurer Druck auf ihm lastete und dass er mit seinem jüdischen Erbe haderte. Als er uns dann seine Geschichte erzählte, war schnell klar, dass seine eigene Geschichte viel interessanter war", erklärt Jana Matthes im Gespräch nach der Filmpremiere in Köln. "Yaar wusste selber auch, er kann es erst abwerfen, wenn er es sozusagen durchlebt hat, wenn er es erfasst hat und es versteht."
Das roch nach einer größeren Dimension und war schließlich auch der Grund, weshalb aus dem ursprünglich geplanten kurzen TV-Beitrag nun ein 104-minütiger Dokumentarfilm geworden ist. Außerdem gibt es eine 50-minütige Lehrfilm-Fassung, die es in- und ausländischen Bildungseinrichtungen erlaubt, den Film anzufragen. Nach einer langen Produktionszeit von vier Jahren, bedingt durch Finanzierungsnöte und die Pandemie, wurde der Film 2020 auf dem DOK.fest in München uraufgeführt und im Juni als einer von zwölf Filmen für den Deutschen Dokumentarfilmpreis nominiert. Jetzt kommt er in die deutschen Kinos.
Interaktive Formen der Erinnerung
Yaar beendet derweil sein Studium als Game-Designer. Von seiner ursprünglichen Idee für das Spiel "Als Gott schlief" ist er mittlerweile abgerückt. "Man müsste schauen, ob man eine solche Geschichte kreieren kann, ohne die Idealisierung von Nazis", sagt Jana Matthes bezogen auf eine potenzielle Computerspiel-Neuauflage. Denn das Interaktive als neue Form der Erinnerung sei schon reizvoll, um junge Leute an diese wichtige Thematik heranzuführen.