Verliebt in die Wiedervereinigung?
3. Oktober 2017Man stelle sich vor, die deutsche Einheit wird gefeiert, und alle machen mit! Eine hierzulande scheinbar noch immer ungeheure Vorstellung. Oder doch nicht?
"Der 3. Oktober ist ein perfekter Nationalfeiertag, gerade jetzt, wo man wieder über Spaltung redet", sagt Clemens Hühmer, 1986 in West-Berlin geboren. "Die Wiedervereinigung ist ein Beispiel dafür, dass sich nicht alles negativ entwickeln muss", findet er.
Sportmanager Clemens Hühmer gehört zu der Generation junger Deutscher, die den Kalten Krieg und die DDR nur noch aus den Erzählungen ihrer Eltern und aus dem Schulunterricht kennen. Und dennoch existiert auch bei ihm noch die Mauer im Kopf.
Niemals in den Osten
"Obwohl ich mit dem Thema Teilung eigentlich nichts zu tun habe, würde ich zum Beispiel nie nach Ost-Berlin ziehen, und ich habe auch Freunde aus dem Osten, die würden nie auf die Idee kommen, nach Wilmersdorf oder Charlottenburg zu ziehen", sagt Hühmer.
Knapp 30 Jahre nach dem Mauerfall ist die Teilung also auch noch bei der jungen Generation präsent, die erst im wiedervereinigten Deutschland auf die Welt kam. Warum hat sich die Generation Mauerfall noch immer nicht aus dem Ost-West-Schema befreit?
Eine Studie des Zentrums für Sozialforschung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg versucht, darauf Antworten zu finden. Die Autoren Everhard Holtmann und Bernd Martens kommen zu dem Schluss, dass "die DDR sogar bei jenen weiterlebt, die sie nicht mehr selbst erlebt haben."
Dies trifft nicht nur auf die junge Generation zu, die nach dem Mauerfall in den neuen Bundesländern aufwuchs und von den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern geprägt wurde, die noch in der DDR sozialisiert wurden. Auch im Westen wirken die familiären Erinnerungen an die Teilung nach.
Schikane an der Grenze
"Mein Vater erzählt immer wieder von den Schikanen an der deutsch-deutschen Grenze, wenn er von West-Berlin durch die damalige DDR nach Bayern fuhr", erinnert sich Clemens Hühmer. Die Grenzbeamten hätten in den Kofferraum geguckt, ihn lange warten lassen und sich aufgespielt.
Im Osten hingegen werden auch positive Erinnerungen von Eltern und Großeltern an die Generation Wiedervereinigung weitergeben. "Beim Vergleich mit dem heutigen Alltag schneidet die DDR aus einer lebensweltlichen Perspektve relativ gut ab", sagte Holtmann gegenüber der Wochenzeitung "Die Zeit".
Je jünger die Befragten, desto distanzierter ihr Blick auf die ehemalige DDR. Die nach der Wiedervereinigung geborene Generation halte den demokratischen Rechtsstaat für alternativlos, im Gegensatz zu ihren Eltern und Großeltern, heißt es in der Studie. "Da wächst sich also eine gewisse DDR-Verklärung aus."
Abschied von der Ostalgie
Auch die 1995 in Ost-Berlin geborene Natalie Oikova hat diese nostalgischen Gefühle bei ihren Eltern beobachtet. Ihr Vater kam 1989 aus Bulgarien in die sich auflösende DDR, um in Ost-Berlin als Zahntechniker zu arbeiten. Zwei Jahre später kam die Mutter nach.
"Meine Eltern haben lange von der brüderlichen Gemeinschaft geschwärmt, die sie damals in Bulgarien hatten. Positiv empfanden sie, wie sozialistisch und schön der ganze Umgang miteinander war", sagt sie. Mittlerweile sei das anders."Das Bulgarien, das meine Eltern kannten, ist schon lange weg. Die Leute haben sich in den letzten 30 Jahren extrem verändert."
Auch wenn sie schon ein paar Mal bei den Feiern zur deutschen Einheit am Brandenburger Tor war - die 22-jährige Studentin der Theaterwissenschaft sieht sich als Berlinerin, nicht als Deutsche oder Bulgarin. "Ich definiere mich lieber über eine Stadt als über ein ganzes Land", sagt Natalie Oikova.
Mentale Mauer
Doch es nützt nichts, die Teilung holt sie gerade als Berlinerin immer wieder ein. Spätestens, wenn sie sich zu ihrem "Kiez" bekennt und ihren Wohnort Kaulsdorf nennt, ist die Mauer wieder da. Denn der Ortsteil im Bezirk Marzahn-Hellersdorf gilt mit seinen Plattenbauten als Sinnbild überholter DDR-Wohnkultur.
Doch die unsichtbare Mauer erstreckt sich bis tief in den Westen. Auch den jungen Politiker und Schauspieler Michel Brandt aus Karlsruhe, der bei den Wahlen im September erstmals für die Linkspartei in den Bundestag einzog, holt die deutsch-deutsche Vergangenheit immer wieder ein.
Im Wahlkampf wurde er bei Veranstaltungen als Mitglied der "Mauermörder-Linkspartei" diffamiert. "Immer wenn man in der politischen Diskussion nicht weiterkommt, dann wird die SED-Keule ausgepackt", ärgert sich der 27-Jährige.
Die Linke ging 2007 aus der Partei des demokratischen Sozialismus (PDS) hervor, die ihrerseits der ehemaligen DDR-Staatspartei SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) entsprang.
Symbol für Gewaltfreiheit
Gefeiert hat der Nachwuchspolitiker Brandt den Tag der deutschen Einheit noch nie. Damit gehört er wohl zur Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland, die sich über die Wiedervereinigung freut, aber den 3. Oktober als Feiertag lieber privat genießt.
Für Sportmanager Clemens Hühmer ist die symbolische Bedeutung entscheidend. "Ich finde es gerade für Deutschland wichtig, dass der 3. Oktober der Nationalfeiertag ist", sagt er. "Man sagt immer, alles driftet auseinander, aber die Wiedervereinigung lief größtenteils gewaltfrei ab und ist ein positives Beispiel dafür, wie es andersherum geht."