Vietnams Wirtschaft profitiert von Chinas Pandemiepolitik
23. Mai 2022Vietnam war eines der wenigen Länder weltweit, dessen Wirtschaft im Pandemiejahr 2020 gewachsen ist. Entscheidend dafür war ein frühzeitiges und rigoroses Handeln der Regierung und eine lange Zeit erfolgreiche Null-COVID-Strategie. Im Sommer 2021 – bevor die Omikron-Variante die Regeln der Pandemie veränderte – geriet die Situation aber zusehends außer Kontrolle. Die Infektionszahlen stiegen, Fabriken von Elektronikkonzernen wie Samsung und Apple oder Textilfabriken von Nike und Zara mussten wochenlang schließen. Arbeiter kehrten unter chaotischen Bedingungen in ihre Heimatdörfer zurück. Das Wirtschaftswachstum ging nach Angaben der Weltbank auf 2,58 Prozent zurück.
Vietnam änderte schließlich seine Strategie und trieb die Impfkampagne voran, die zuvor vernachlässigt worden war. Hanoi ging pragmatisch vor und nutzte im Unterschied zu China auch westliche Impfstoffe. Daniel Müller vom Ostasiatischen Verein (OAV) in Hamburg, dem Netzwerk der deutschen Asienwirtschaft, sagt dazu im Gespräch mit der DW: "Vietnam hat relativ schnell die Kurve bekommen, und das zeigt die Adaptionsfähigkeit des vietnamesischen Systems."
Inzwischen sind fast alle Corona-Maßnahmen aufgehoben. Das Risiko von weiteren Lockdowns ist nach Ansicht von Dang Duc Anh, dem Direktor des Nationalen Instituts für Hygiene und Epidemiologie in Vietnam, gering, wie er gegenüber Reuters äußerte. Die Asiatische Entwicklungsbank prognostiziert für 2022 ein Wachstum von 6,5 Prozent und für 2023 eines von 6,7 Prozent.
Mehr Investitionen auch aus China
Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass Vietnam von der Kurskorrektur in der Pandemiepolitik profitiert. Viele Unternehmen insbesondere aus der Elektronikindustrie nehmen viel Geld in die Hand. Der südkoreanische Konzern Samsung hat im Februar dieses Jahres angekündigt, weitere 920 Millionen US-Dollar in den Standort Vietnam zu investieren.
Auch der Trend der Verlegung der Produktion von China nach Vietnam setzt sich weiter fort. Chinesische Elektronikkonzerne wie Luxshare Precision Industry, Goertek und Pegatron gehen nach Vietnam, wie das Fachmagazin "Elektronik Praxis" berichtete. Raphael Mok von der Unternehmensberatung Fitch Solutions sagte gegenüber Reuters: "Vietnam wird einer der Hauptprofiteure der sich verlagernden Lieferketten sein." Müller vom OAV ergänzt mit Blick auf Deutschland: "Vietnam war immer im Blickpunkt der deutschen Firmen. Der eigentliche Run hat noch nicht eingesetzt, aber das könnte sich jetzt ändern, weil die Unzufriedenheit der Unternehmen in China jetzt ein Ausmaß angenommen hat, das es vorher nicht gab." China zieht mit seiner Null-COVID-Politik und wochenlangen Lockdowns bei niedrigen Inzidenzen vor allem in der Wirtschaftmetropole Shanghai zunehmend Kritik auf sich.
Herausforderung: Resiliente Lieferketten
Trotz der guten Aussichten gibt es auch Herausforderungen für Vietnams Wirtschaft. Da wäre zum ersten Vietnams tiefe Integration in die globalen Lieferketten, die zugleich Fluch und Segen ist. Segen, da Vietnams offene Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahre das Wachstum überhaupt erst möglich gemacht hat. Fluch, da Vietnam auf die Zulieferung von Rohstoffen und Grundprodukten angewiesen ist, die wegen der Pandemie ausbleiben oder nur verzögert eintreffen. Vietnam ist auch mit Blick auf die zunehmenden geopolitischen Spannungen zwischen den USA und China verwundbar.
Das Stichwort für die Lösung lautet: resiliente Lieferketten. Hier ist Vietnam, so Müller, noch nicht gut genug aufgestellt. Etwa das Thema digitale Lieferketten sei in Vietnam noch nicht genügend im Fokus. Digitale Lieferketten bedeuten die digitale Vernetzung aller Prozesse und Schritte einer Lieferkette, um sie in Echtzeit zu überwachen und noch effizienter zu gestalten.
Robuste Wirtschaft
Aber nicht nur die Lieferketten, sondern auch Vietnams Wirtschaft insgesamt müsse resilienter werden. Die Widerstandsfähigkeit könne nur erhöht werden, wenn die produktive Wertschöpfung gesteigert und auf eine breitere Basis gestellt würde. "Dafür ist eine weitere Professionalisierung auf allen Ebenen nötig", sagt Müller. Vietnams Bildungs- und Ausbildungssystem etwa muss besser werden. Momentan kann es mit dem wachsenden Bedarf kaum Schritt halten.
Resilienz bedeutet auch die Binnennachfrage zu stärken. Als im Spätsommer 2021 COVID-19 durchschlug, setzte das der vom Außenhandel abhängigen Wirtschaft sehr zu. Die Außenhandelsquote Vietnams lag 2020 laut Weltbank bei 209 Prozent. Ein hoher Wert deutet auf eine hohe ökonomische Abhängigkeit hin. Vietnam mit seinen knapp 100 Millionen Einwohnern kann natürlich keine binnenzentrierte Entwicklung wie China anstreben. "Es kann zunächst nur darum gehen, das ein Stück weit auszubalancieren", so Müller.
Vietnam hat das Problem zwar erkannt, aber es tut sich schwer, die notwendigen Schritte Richtung Balance zu gehen. Für eine verstärkte Binnennachfrage müssten größere Teile der Bevölkerung vom Wirtschaftswachstum profitieren, aber die Ungleichheit wächst, ebenso wie das Stadt-Land-Gefälle, wie eine Studie vom März 2021 in der Fachzeitung "Economies" zeigt.
Herausforderung: Menschen- und Arbeitnehmerrechte
Eine weitere Herausforderung insbesondere mit Blick auf Investitionen aus Deutschland und der EU ist die autoritäre Politik des Landes. Die aktuelle Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag erklärt, eine "wertebasierte Außenpolitik", in der die Lage der Menschenrechte stärker berücksichtigt werden soll, zu verfolgen. Auch das Sorgfaltspflichtengesetz (auch Lieferkettengesetz genannt), das seit 2021 gilt, aber erst nach 2023 schrittweise und je nach Unternehmensgröße umgesetzt werden muss, stellt höhere Anforderungen an Unternehmen bezüglich Umweltschutz und Menschenrechte.
Vietnam ist hier kein Partner der allerersten Wahl, was sich auch beim EU-Vietnam Freihandelsabkommen (EVFTA) zeigt. Letzteres ist zwar seit August 2020 in Kraft, aber bei der Umsetzung knirscht es noch. Denn laut Abkommen verpflichtet sich Vietnam, unabhängige Gewerkschaften zuzulassen. Doch der Prozess kommt nur schleppend voran. Bis heute ist nicht gesetzlich geregelt, wie und unter welchen Umständen unabhängige Gewerkschaften registriert werden können.
Offene Wirtschaft
Für Müller vom OAV ist klar, dass Vietnam im Rahmen der wertebasierten Außen- und Handelspolitik nicht zum engsten Kreis der gleichgesinnten Partner gezählt werden kann. Aber für den erweiterten Kreis von Handelspartnern, die – anders als beispielsweise die Volksrepublik China oder die USA unter Trump – an einer offenen Wirtschaft festhalten, "ist Vietnam aus deutscher und auch aus europäischer Sicht eigentlich unverzichtbar." Und zwar als Standort für die arbeitsintensive Fertigung.
In dieser Position nimmt Vietnam nach Müllers Ansicht eine besondere Stellung in Südostasien ein. Vietnams mögliche Konkurrenten Thailand und Indonesien werden Vietnam aus unterschiedlichen Gründen nicht so schnell gefährlich. Thailand ist in der Wirtschaft bereits einen Entwicklungsschritt weiter und produziert höherwertige Güter. Indonesien beginnt dagegen erst jetzt sich schrittweise von seiner traditionellen Binnenorientierung zu lösen und sich stärker in die Weltwirtschaft zu integrieren.