Viktor Orbáns Trauma
4. Juni 2020"Es geht nicht darum, Friedensverträge aufzukündigen oder Grenzen neu zu ziehen", sagt der Historiker János Rainer. Für ihn ist das Trianon-Mahnmal in der ungarischen Hauptstadt Budapest vor allem ein Ort, an dem einem Opfermythos gehuldigt wird – "einer Nation, die so viele Schläge erlitten hat und trotzdem zusammenhält". Damit verfolge die Regierung innenpolitische Ziele: Die Nation solle sich um ihren Anführer scharen - nämlich Premier Viktor Orbán.
Umgerechnet 16 Millionen Euro hat sich dessen Regierung das Mahnmal zum 100. Jahrestag der Unterzeichnung des Friedensvertrages kosten lassen, der im zweiten Jahr nach Ende des Ersten Weltkriegs unterzeichnet wurde. Es ist eine Art Rampe, die in den Boden führt, an den Marmor-Wänden die Namen von 12.500 Gemeinden, die bis 1920 zu Ungarn gehörten.
Im Lustschloss Trianon hatten die Delegationen am 4. Juni 1920 die Schrumpfung des ehemaligen Königreichs auf ein Drittel seiner einstigen Größe besiegelt. Etwa drei Millionen Ungarn waren plötzlich Bürger anderer Staaten. Große Gebiete gingen an die Slowakei, die Ukraine, Jugoslawien, Rumänien und Österreich.
"Die Geschichte kennt keine Nation, die einen derartigen Blutverlust überlebt hätte", so Regierungschef Orbán Anfang des Jahres in seiner Rede an die Nation. "Heute, hundert Jahre nach dem Todesurteil von Trianon, kann ich Ihnen vermelden: Wir leben und Ungarn existiert immer noch".
Zwei Millionen Ungarn in den Anrainerstaaten
Heute leben etwa zwei Millionen Ungarisch-Stämmige in den Anrainerstaaten, die meisten im rumänischen Siebenbürgen. Die Regierung Orbán hat sich unter den Auslandsungarn einen stabilen Wählerpool erschlossen, indem sie ihnen Doppelpass und Wahlrecht gab, was in Bratislava und Bukarest mit Argwohn betrachtet wird.
In der Corona-Pandemie verteilte Ungarns Außenminister Péter Szíjjártó Schutzausrüstung an die Landsleute, denn "jeder Ungar ist für jeden Ungarn verantwortlich", wie es auch in der Verfassung von 2012 steht. In PR-Videos bedankten sich die Beschenkten artig bei der Regierung in Budapest, "kein Virus" könne "die Ungarn trennen".
Trianon sei zwar das große Trauma der Ungarn, meint dagegen Österreichs früherer Vizekanzler Erhard Busek, der heute das Wiener Institut für Donauraum und Mitteleuropa leitet. Aber dabei vergäßen sie, "dass dort nicht nur Ungarn lebten, sondern dass es eine beachtliche Sammlung war". Ungarische Parteien in Rumänien und der Slowakei verträten heute angemessen die Interessen der Minderheit. Die Regierung in Budapest pumpt Millionen in deren Bildung, Medien und Sportvereine - eine Einzahlung auf das Fidesz-Wahlkonto.
"Ungar ist, wen Trianon schmerzt"
Nach einer aktuellen Umfrage der Ungarischen Akademie der Wissenschaften teilten 84 Prozent der etwa 1000 Befragten die Ansicht, dass der ein Ungar sei, "den Trianon schmerzt". 94 Prozent sind der Meinung, dass der Friedensvertrag, der in offiziellen Dokumenten "Friedensdiktat" heißt, "ungerecht" gewesen sei.
Rechtsextreme wollen eine Revision der Grenzen, etwa László Toroczkai, Bürgermeister der serbisch-ungarischen Grenzgemeinde Ásotthalom, der "den Vertrag auf den Prüfstand stellen" will. Der stramm rechte Weltverband der Ungarn sammelt seit Jahren Unterschriften für eine Revision des Trianon-Vertrages, Rechtsrockbands wie Kárpátia haben liefern den entsprechenden Soundtrack.
"Nem, Nem, Soha", das "Nein, Nein, Niemals" , das dreifache Nein (Tria-Non) der Zwischenkriegszeit ersteht zu harten Beats wieder auf. Das Gebet, das während der Regierungszeit des autoritären Zwischenkriegsherrschers Miklós Horthy Schulkinder aufsagen mussten ("Ich glaube an Ungarns Wiederauferstehung") ist Teil ihrer Bühnenperformance, rund um Trianon ist eine revisionistische Subkultur entstanden.
Horthy-Kult
Dazu gehört auch der Fan-Kult um den ungarischen Zwischenkriegsherrscher, den Regierungschef Viktor Orbán einen "außergewöhnlichen Staatsmann" nennt. Reichsverweser Horthy steht für Tatkraft - und für Revisionismus.
Um die 1920 verlorenen Gebiete zurückzubekommen, hatte er sich mit Hitler verbündet und außenpolitisch damit - kurzfristig - Erfolg: In zwei Wiener Schiedssprüchen 1938 und 1940 bekam Ungarn einen Teil der verlorenen Gebiete zurück - die Uhr wurde allerdings nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf 1920 zurückgedreht. Der ostungarische Geburtsort Horthys, Kenderes, bietet heute "Horthy-Touren" an, Butterfahrten führen ins örtliche Museum.
Das sei Teil einer anti-linken Erinnerungspolitik, meint der Schweizer Historiker Christian Koller. In dieser Logik sei gut, "was die Räterepublik überwunden hat". Der Reichsverweser Horthy hatte mit einer Soldateska den 133 Tage währenden linken Staatsversuch 1919 bezwungen, dabei war es auch zu Pogromen gekommen - ein blinder Fleck in der aktuellen Erinnerungspolitik, die den "roten Terror" der ungarischen Räterepublik betont.
Die These von Trianon als Machenschaft ausländischer Großmächte variiert Orbán heute, wenn er vom "Brüsseler Imperium" oder gar "Brüssel, dem neuen Moskau" spricht. Dabei gibt es zwar immer wieder Konflikte mit den Nachbarstaaten (Sprachenstreit mit der Ukraine, Doppelte Staatsbürgerschaft, Autonomieforderungen der ungarischen Székler in Rumänien) - aber im Alltag zählt für die Budapester Regierung vor allem, wie sich aus den früheren Trianon-Gebieten politischer Gewinn machen lässt.
"Überraschenderweise mache ich die Erfahrung, dass wir mit der Slowakei, mit Serbien, Kroatien und Slowenien eine gemeinsame Sprache finden", so Orbán in seiner Rede zur Lage der Nation, "wir können sogar Bündnisse bilden" - etwa das der vier Visegrad-Staaten Ungarn, Tschechien, Slowakei und Polen: Ein Europa-skeptischer Block von EU-Mitgliedsländern.
Wenn das Herz nicht blutet
Das Burgenland war durch den Trianon-Vertrag an Österreich gefallen. Die Stadt Sopron blieb nach einer Volksabstimmung 1921 bei Ungarn. "Wenn das anders ausgegangen wäre", sagt Marianne Seper, "wäre Sopron heute Landeshauptstadt und nicht Eisenstadt". Ändern will sie daran aber nichts. Grenzziehungen "entwurzeln Menschen", sagt sie.
Die Burgenland-Ungarin leitet den ungarischen Kulturverein in Oberwart. Hier, nahe der Grenze, sind die Ortsschilder zweisprachig. Seper unterrichtet Geschichte und Ungarisch. Der Sprachunterricht ist gesetzlich verbrieft, die ungarische Minderheit ist geschützt.
Mit Ungarn verbindet sie vor allem eine kulturelle Nabelschnur, erzählt Seper, die regelmäßig ins Theater ins nahe Szombathely oder nach Budapest fährt. Mit dem Thema Trianon fremdelt sie. "Als ich noch aktiver getanzt habe, wurden wir auch oft zu diesen Trianon-Feiern eingeladen" erzählt Volkstänzerin Seper, "aber das war dann immer sehr nationalistisch".
Damit hat Seper nichts am Hut, "weil da mein Herz nicht blutet". Sie versuche ihren Schülern etwas anderes nahezubringen: dass Staaten, die Kriege anzetteln, auch dafür zur Rechenschaft gezogen werden und der Frieden gewahrt bleibe. Für sie ist Trianon letztlich die Geburtsstunde der UNO.