Vollbremsung in Venezuela
12. April 2002Schon zum zweitenmal in den letzten vier Monaten wird gestreikt. Zuerst legten die Erdölarbeiter am Dienstag (9. April 2002) ihre Arbeit nieder. Inzwischen haben sich auch andere Gruppen angeschlossen: Sogar Arbeitgeber protestieren Schulter an Schulter mit den Arbeitnehmern gegen die Wirtschaftspolitik des Präsidenten Hugo Chavez.
Die Erdölförderung ist in der Zwischenzeit fast zum Stillstand gekommen. Tanker liegen im Hafen und werden nicht mehr mit Öl beladen. Vor den Tankstellen stehen die Autos Schlange. Der Vizepräsident schickte die Polizei los, damit sie für Ordnung auf den Straßen und in den Raffinerien sorgt. Als sie aber auf Streikende stieß wurden zahlreiche Menschen verletzt.
Der Stein kommt ins Rollen
Den Anlass für den Streik hat der Präsident Hugo Chavez sich selbst auf die Fahnen zu schreiben. Vor zwei Monaten setzte er durch, dass in dem größten staatlichen Ölkonzern (PDVSA) zahlreiche Führungskräfte entlassen wurden. Die frei werdenden Posten besetzte er mit seinen eigenen Getreuen. Diese autoritäre Einmischung in die Wirtschaft ging den Erdölarbeitern zu weit. Immerhin beschäftigt der Ölkonzern PDVSA 40.000 Menschen, liefert die Hälfte der Staatseinnahmen Venezuelas und ist das viertgrößte Erdölunternehmen der Welt. Nun fordern die Streikenden, das alle Entlassenen wieder zurück auf ihre Arbeitsplätze dürfen.
Einziges Schmiermittel: Öl
Der Streik der Erdölarbeiter hat sich mittlerweile zu einem Generalstreik gemausert und trifft Venezuela hart. Erdöl ist das einzige Schmiermittel der Wirtschaft. Die Hälfte der Staatseinnahmen werden durch Erdöl gedeckt. Venezuela deckt knapp ein Drittel seines Bruttoinlandprodukts mit Erdölexporten. Zum Verhängnis wird dem Land nun, dass aufgrund der reichen Bodenschätze weder ein effizientes Handelssystem noch eine funktionierende Industrie aufgebaut wurde.
Dunkle Wolken schweben über den Streikenden
Experten schätzen, dass der Streik täglich rund 50 Millionen Dollar kostet. Diese Einbußen kann sich Venezuela im Augenblick gar nicht leisten. Denn dunkle Wolken einer drohenden Rezession schweben über dem Land. Seit längerem hatten internationale Finanzinstitute vor einer Schrumpfung der Wirtschaft gewarnt. Die Brisanz der Lage zeigt sich auch darin, dass einflussreiche Rating-Agenturen die Kreditwürdigkeit Venezuelas herabgestuft haben.
Der Bolivar stürzt gewaltig
Noch im Februar wollte Chavez mit der Freigabe des Wechselkurses der drohenden Rezession entgegenwirken. In den letzten fünf Jahren war die Währung Venezuelas, der Bolivar, an den Dollar gekoppelt. Das führte dazu, dass der Bolivar im letzten Jahr als stark überbewertet galt. Die wenigen Reichen vertrauten der heimischen Wirtschaft ohnehin nicht und legten ihr Vermögen lieber im Ausland an. Der überbewertete Bolivar verstärkte aber noch die Devisenflucht, da die Anleger eine Abwertung befürchteten. Mit Recht, denn nach der Freigabe der Währung fiel der Kurs binnen einer Woche um 17 Prozent.
Der Gürtel wird enger geschnallt
Zusätzlich kündigte Chavez drastische Sparprogramme an, um den hoch verschuldeten Staatshaushalt zu entlasten. Er plant die Ausgaben um sieben Prozent zu kürzen, das Steuersystem zu reformieren und nur halb so viele Staatsanleihen auszugeben wie ursprünglich geplant war.
In einem Land, in dem 20 Prozent der Bevölkerung keine Arbeit haben und 80 Prozent unter die Armutsgrenze fallen, schlägt eine solche Maßnahme ein wie eine Bombe. Die Beliebtheit Chavez', der sich selbst zum "Präsident der Armen" ernannt hatte, sank laut Umfragen prompt von 70 auf 35 Prozent. Er hatte der Masse der Armen eine verbesserte soziale Situation und Landreformen versprochen. Stattdessen verdienen die Menschen in Venezuela heute soviel wie 1955.