Therapie gegen Magersucht
6. Juni 2013Hanna S. schleicht sich aus dem Haus, in dem der Verein "Bonner Zentrum für Essstörungen" seinen Sitz hat. Die 31-Jährige will keinesfalls gesehen werden. Sie hat Angst, jemand könnte erfahren, dass sie Probleme mit dem Essen hat. Seit mehr als 16 Jahren leidet sie an der Ess- und Brechsucht Bulimie. In der Pubertät fing es an: Sie nahm zu und wollte doch schlank bleiben. Sie machte eine Diät, nahm ab und wieder zu. Das wollte die ehrgeizige junge Frau nicht akzeptieren. Nach Mahlzeiten steckte sie sich den Finger in den Hals: "Ich fühlte mich mächtig, dachte, ich hätte alles unter Kontrolle, könnte jederzeit aufhören mit dem Kotzen, aber das war ein Trugschluss."
Bulimiker leiden unter Kontrollverlust
Seit dem teilt Hanna Nahrungsmittel in gute und schlechte ein, kann den kalorienhaltigen doch nicht widerstehen. Oft hat sie Heißhungerattacken. Wenn sie müde ist, wütend oder traurig, dann isst sie. Besonders Schokoladenaufstrich stopft sie direkt aus dem Glas hemmungslos in sich hinein. Dann fühlt sie sich gut, doch das Gefühl dauert nicht lange. Schon bald plagen sie Gewissensbisse wegen der Mengen, die sie verschlingt. Eine Gewichtszunahme ist das Schlimmste, was sie sich vorstellen kann. Zur Kontrolle steigt sie nach jeder Mahlzeit auf die Waage und sucht anschließend die Toilette auf, um sich zu erbrechen. Das zwanghafte Ritual wiederholt sich bis zu 30 Mal am Tag. Sie kann an kaum noch etwas anderes mehr denken als ans Essen und ist bemüht, ihr Leiden geheim zu halten.
Hanna hat das Interesse an der Umwelt verloren, lebt sehr isoliert, und ihr Leid kostet viel Geld. Jeden Tag muss sie neue Verpflegung beschaffen, die anschließend im Klo landet. Auf Kollegen wirkt sie nett und selbstbewusst, doch sie fühlt sich klein und schutzlos. Irgendwann zeigt die Sucht Wirkung auf ihr körperliches Wohl: Nach Fress-Brechanfällen erleidet sie einen Zuckerschock und zittert am ganzen Leib. Weil ihrem Gehirn die Kohlenhydrate fehlen, kann sie nicht mehr klar denken. In solch einer Krise hat sie sich ihrer Hausärztin anvertraut. Die gab ihr die Telefonnummer der Beratungsstelle.
Essstörung als Ausdruck für ein mangelndes Selbstwertgefühl
Annette Lemler-Lauerbach arbeitet seit zwölf Jahren im Bonner Zentrum für Essstörungen, das telefonische und persönliche Beratung sowie Therapien anbietet. Schätzungen zufolge sind ein Prozent der 15- bis 25-jährigen Mädchen und Frauen von Magersucht, der sogenannten Anorexie, und etwa 2,5 bis 5 Prozent von Bulimie betroffen.
Gerade bei der Bulimie liegt die Dunkelziffer sehr hoch, weil die Betroffenen nicht so stark abnehmen wie bei der Magersucht. Die Weigerung zu Essen oder der Zwang zum Erbrechen entsteht durch eine Vielzahl von Faktoren. In Fachkreisen wird das "biopsychosoziale Genese" genannt: "Da ist der gesellschaftliche Druck, der Schlankheitswahn, der zu Gruppenzwang bei Mädchen in den Schulen führt und zu Diäten", beschreibt die Diplom-Psychologin die Anfänge, "aber wer von der Psyche stabil ist, wird nicht unbedingt essgestört."
Auffallend sei, dass das Selbstwertgefühl von Magersüchtigen und Bulimikerinnen schwach ausgeprägt sei. Sie fänden ihr Leben "zum Kotzen". Familien von magersüchtigen Patienten seien eher auf Harmonie bedacht. Streit und Konflikte würden vermieden. Bei den bulimischen Familien gehe es zwar hin und wieder hoch her, doch Konflikte würden nicht konstruktiv gelöst, hat Lemler-Lauerbach festgestellt.
Essstörungen - Zivilisationskrankheiten der Wohlstandsgesellschaft
"Wenn man sich auf Stereotype festlegen will, kann man sagen, dass Magersüchtige aus höheren Bildungsschichten kommen. Leistungsorientierung hat dort in der Familie einen hohen Stellenwert, bis hin zur Zwanghaftigkeit", erklärt Dr. Katrin Imbierowicz das Phänomen. Die leitende Oberärztin behandelt Patienten in der psychosomatischen Abteilung der Uniklinik Bonn. Konflikte, wie zum Beispiel familiäre Auseinandersetzungen, Probleme in der Pubertät oder mit der Sexualität, bis hin zu sexuellem Missbrauch, können einer Essstörung zugrunde liegen.
Auch Jungen und Männer sind zunehmend gefährdet. "Es reicht nicht mehr, mit einem Porsche einer Frau zu imponieren. Viele Männer wünschen sich den perfekten Körper, betreiben exzessiv Sport, halten streng Diät und nehmen Nahrungsergänzungsmittel oder Anabolika", sagt Annette Lemler-Lauerbach. Diese Erkrankung wird als Adoniskomplex, Biggerexie oder Muskelsucht bezeichnet.
Das Maß zwischen Hunger und Sättigung verloren
Mit der Zeit entwickeln die Betroffenen eine sogenannte Körperschemastörung. Obwohl manche aussehen wie ein lebendes Skelett, glauben sie, zu dick zu sein. Da der Körper ständig in einem Mangelzustand gehalten wird, verliert er jegliches Hunger-und Sättigungsgefühl. Er kann nicht mehr zwischen den Gefühlen für Hunger, Wut, Trauer, Lust oder Müdigkeit unterscheiden.
"Hunger und Sättigung sind Grundbedürfnisse, die man sich im Laufe des Lebens abtrainieren kann. Gegen den eigenen Hunger anzukämpfen, kann sogar mit einer gewissen Befriedigung einher gehen", sagt Dr. Katrin Imbierowicz von der Bonner Uniklinik. Allerdings sei noch nicht erforscht wie der natürliche Selbstschutz an diesem Punkt ausgeschaltet wird. Gesunde Menschen nehmen das extreme Untergewicht nämlich als Gefahr wahr.
Hormonstörung bei Essgestörten
"Bulimie ist medikamentös nicht zu heilen. Man hat jedoch einen positiven Einfluss von Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (Antidepressiva) auf die Häufigkeit und Intensität von Essattacken festgestellt, so dass diese Medikamente gelegentlich begleitend zur Psychotherapie eingesetzt werden", erklärt Annette Lemler-Lauerbach.
Serotonin wird auch "Glückshormon" genannt, weil es euphorisch macht und das Lern-und Erinnerungsvermögen fördert. Mediziner verabreichen es bei krankhafter Müdigkeit, Angstzuständen und Migräneanfällen. Um eigenes Serotonin zu bilden, braucht der Körper Tryptophan. Diese Aminosäure kann er ausschließlich über die Nahrung aufnehmen. Antidepressiva helfen, die Stimmung zu heben. Doch Medikamente ersetzen keine Psychotherapie.
Bei der stationären Therapie in der psychosomatischen Abteilung der Uniklinik Bonn versucht Oberärztin Katrin Imbierowicz diese Körperschemastörung zu behandeln. Essgestörte, die sich sehr negativ sehen, müssen lernen, ihren Körper im Spiegel erst einmal neutral und im Idealfall liebevoll zu betrachten. In Gesprächen lernen sie, zu erkennen, welche Bedürfnisse sie verdrängen und welche sie wirklich haben "wonach sie eigentlich Hunger haben, was sie sich verbieten, wenn sie nicht essen", so Dr. Imbierowicz.
Extremmagersüchtige müssen sich verpflichten, eine gewisse Kalorienzahl am Tag aufzunehmen, um eine Zunahme von mindestens 500 Gramm Körpergewicht pro Woche zu erreichen. Sie sollen lernen, sich weniger zu kontrollieren. Diejenigen, die an Fress-Brechsucht leiden, werden direkt bei der Nahrungsaufnahme begleitet, um eine Eigenkontrolle zu erlangen. Ziel für alle ist es, mit Genuss zu essen", erklärt Dr. Imbierowicz. Die Patienten sollen lernen Konflikte zu bewältigen, statt diese durch Essen oder Hungern zu verdrängen.
Essstörungen sind immer psychische Erkrankungen, die sich körperlich ausprägen. Knochenschäden durch Mineralienmangel, Karies durch die Säure, die beim Erbrechen mit hochkommt oder Nierenschädigungen infolge eines gestörten Kaliumhaushalts gehören zu den Folgen.
Hanna S. ist fest entschlossen, ihr Leben zu ändern. Die Einsicht ist der erste Schritt für eine Therapie zum richtigen Umgang mit dem Essen und der eigenen Persönlichkeit. Und sie hat Glück, weil sie noch keine ernsthaften körperlichen Schäden erlitten hat. " Haarausfall, trockene Haut, Müdigkeit, Konzentrationsmangel und organische Schäden, wie zum Beispiel Nieren- oder Herzversagen entstehen durch mangelnde Versorgung von Vitaminen und vor allem Mineralstoffen", erklärt Annette Lemler-Lauerbach.
Magersucht - die Krankheit mit der höchsten Sterblichkeitsrate
Eine Therapie zum richtigen Umgang mit dem Essen – und den eigenen Bedürfnissen - kann Jahre dauern. Und nicht immer geht sie für den Patienten gut aus. Die Heilungsraten liegen laut Statistik bei 30 Prozent. Im schlimmsten Fall endet eine Essstörung mit dem Tod, weil nach dem ewigen Hungern die Organe versagen. Jede zehnte Magersüchtige scheidet durch Suizid aus dem Leben. Das ständige Hungern führt auf Dauer in eine Depression, aus der der Tod als einziger Ausweg erscheint.