Provokateur und Klassiker
27. November 2006Er ist in Straßburg geboren - und aufgewachsen zur Zeit der deutschen Besatzung im Elsass. Schon als 14-Jähriger zeichnete er Hitler als "Schwarzen Peter" im Kartenspiel. Später hat er sich für den deutsch-französischen Kulturaustausch engagiert. Er hat es zum Beispiel geschafft, dass Deutsch wieder an den elsässischen Schulen unterrichtet werden darf.
Sich über Tomi Ungerer, seine Zeichnungen, Geschichten, Gedichte und Aktionen eine eindeutige Meinung bilden zu wollen ist ein völlig sinnloses Unterfangen. Denn in seinem Werk findet sich alles - sowie auch das genaue Gegenteil davon. Ungerer ist kein Mann, der seine Widersprüche verstecken würde: So ist er stolz darauf, gut zu verdienen, mag aber die Konsumgesellschaft überhaupt nicht, von der das Geld kommt. Außerdem versucht er schon sein Leben lang, Kollegen zu helfen, die nicht so geschickt sind wie er.
Zweifel als Religion
Der in einer protestantischen Familie elsässischer Uhrmacher aufgewachsene Tomi Ungerer hat für sich einen Weg gefunden, mit den Gefahren des Erfolgs umzugehen: "Ich sage immer: Erfolg ist ein Minenfeld. Und ich achte einfach [darauf], nicht auf meine Minen zu treten. Ich glaube, mein Minderwertigkeitskomplex hilft mir sehr. Ich bin was ich bin. Ich bin so frei."
Ungerers so genannter Minderwertigkeitskomplex bedeutet, dass der Zeichner häufiger mal unglücklich mit seinen Ergebnissen ist und das auch der Öffentlichkeit mitteilt. Aber Demut und Selbstzweifel halten ihn offen für neue Erfahrungen und spornen ihn an. Eine Zeit lang hat Ungerer in Interviews sogar verkündet, der Zweifel sei seine Religion. All die Angst, nicht zu gut genug zu sein, kann seine Schaffenswut nicht bremsen. Mit zarter Feder, fetten Stiften, Blei, Tinten, Tuschen - niemals Radiergummi! - entstanden mehr als 30.000 Skizzen, Cartoons, Plakate und 140 Bücher. Eine gigantische künstlerische Produktion.
Vernissagen-Clown übt Vergeltung
Ungerers Karriere als Künstler beginnt 1957, da ist er 26, in New York mit einem Bilderbuch "The Mellops Go Flying". 13 Jahre bleibt Tomi Ungerer in den USA. Zum Schluss ist die Beziehung zwischen dem Elsässer und seinen amerikanischen Freunden allerdings zerrüttet. Ungerer hat nämlich den Eindruck, eigentlich nur der Clown für die Vernissagen-Society New Yorks gewesen zu sein. Und übt Vergeltung. Mit seinem Cartoonband "Party".
Hier rückt er der Upper Class ganz nahe aufs Doppelkinn und den gelifteten Busen. Und zeigt sie als hässliche Exhibitionisten, Maschinen-Männer, grinsende Geister, die sich aus Verzweiflung selbst aufessen. Von diesem ungnädigen Portrait der New Yorker besseren Gesellschaft verkauften sich genau 350 Exemplare.
Pudding aller Geschmacksrichtungen
Dass Albtraum und Biedermeier, Zynisches und Zärtliches, Missionarisches und Kapitalistisches so selbstverständlich einem Kopf entspringen, wirkt nicht nur auf die Bewunderer Tomi Ungerers verstörend. Auch er hat einmal einer Zeitung gesagt, sein Gesamtwerk komme ihm vor wie ein großer Pudding. Aber dieser "Pudding aller Geschmacksrichtungen" kam zustande, weil Ungerer es offenbar in seinem Leben nicht auf Eindeutigkeit anlegt. Weil er sich in der Kunst jeden Impuls erlaubt, der kommen will. Da gibt es erfrischend wenig innere Zensur - dafür viel ansteckende Spontaneität.