Vom Risiko offener Grenzen
22. August 2016Mit der Ankunft der vielen Flüchtlinge im Herbst 2015 haben die Anschläge von Würzburg und Ansbach im Juli nichts zu tun. Beide Attentäter kamen schon vorher nach Bayern. Aber alleine die Tatsache, dass sie in Deutschland aufgenommen wurden, um sich dann mit einer Axt und einer Bombe gegen ihre Helfer zu wenden, hat den Blick auf die verstörende Seite der Zuwanderung gelenkt. Heute fragen viele: Was für Leute mögen sich da noch unter die Flüchtlinge gemischt haben? Was wird als nächstes passieren?
Im letzten Herbst fiel die Antwort von Sicherheitsbehörden und Regierungsvertretern auf diese Fragen beruhigend aus: Für Terroristen mache es keinen Sinn, mit dem Flüchtlingsstrom nach Deutschland zu kommen, hieß es übereinstimmend. Zu unsicher, zu aufwändig erschien eine Reise zunächst über das Mittelmeer und dann die Balkanroute.
Von der Realität überholt
Heute wissen wir: Diese Einschätzung war falsch. Bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts Ende Juni erklärte der Chef des Inlandsgeheimdienstes, Hans-Georg Maaßen, nachweislich seien 17 Terroristen über die Balkanroute nach Europa gekommen. Laut Bundeskriminalamt liegen den Sicherheitsbehörden darüber hinaus über 400 Hinweise vor, dass unter den Flüchtlingen Kämpfer, Unterstützer oder Anhänger islamistischer Terrororganisationen sind. Anfang August liefen genau 62 Ermittlungsverfahren. Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik hat im DW-Interview eine Erklärung: "Vor dem Herbst 2015 war es nicht einfach, nach Europa zu kommen. Selbstverständlich konnten Terroristen gefälschte Pässe nutzen. Aber gefälschte Pässe sind teuer; gefälschte Pässe werden an den Grenzen immer mal wieder auch als solche entdeckt. 2015 aber war die Situation so, dass der potentielle Terrorist eigentlich nur die Überfahrt nach Griechenland überstehen musste. Danach gab es weitgehend offene Grenzen, fast ohne Kontrollen seiner Identität, seines Vorlebens. Das musste der IS einfach nutzen," so das Fazit des Terrorexperten Steinberg.
In jedem Fall wurde die sogenannte Balkanroute seitens der Islamisten intensiv erkundet und genutzt. Das zeigt etwa der Fall Bilal C., gegen den der Generalbundesanwalt im Juni Anklage erhoben hat. Die Ermittler gehen davon aus, dass der Algerier Kontakt mit Abdelhamid Abaaoud hatte. Abaaoud, einer der mutmaßlichen Planer und Attentäter der Paris-Anschläge am 13. November 2015, soll demnach Bilal C. beauftragt haben, "die sogenannte Balkanroute im Hinblick auf Grenzkontrollen und Schleusungsmöglichkeiten auszukundschaften." Zwei der Attentäter von Paris sind dann auch nachweislich auf ihrem Weg zum Selbstmordattentat durch Deutschland gereist.
Europol warnt vor Rekrutierung unter Flüchtlingen
Nicht weiter gereist, sondern in Deutschland geblieben, sind wiederum die beiden Syrer Saleh A. und Hamza C.. Sie waren im Sommer 2015 über die Türkei und Griechenland ins Land gekommen. In Deutschland sollen sie mit zwei weiteren Syrern einen großen Anschlag in der Düsseldorfer Altstadt geplant haben. Einer der mutmaßlichen IS-Täter wurde gestellt, als er in seiner Flüchtlingsunterkunft in Brandenburg die staatliche Unterstützung abholen wollte. Bilder von Polizeieinsätzen und umstellten Flüchtlingsunterkünften entstanden auch in der Nähe von Würzburg und bei Ansbach. Für die absolute Mehrheit der Flüchtlinge ist die Vorstellung fürchterlich, dass die Peiniger, denen sie entkommen wollten, sich unter sie gemischt haben könnten. Einzelne Flüchtlinge aber könnten selbst empfänglich sein für radikale Ideen, warnt etwa Europol. Die europäische Polizeibehörde sieht eine "reale und unmittelbar bevorstehende Gefahr", dass syrische Flüchtlinge Ziel "islamistisch extremistischer Rekrutierung" werden.
Auch der deutsche Verfassungsschutz sieht diese Gefahr. So warnt Präsident Maaßen vor sogenannten "Hinterhofmoscheen". Die Geheimdienste beobachten, dass salafistische Gruppen gezielt Flüchtlinge ansprechen. Sie würden versuchen, sie durch Hilfen im Alltag für ihre Ideologie zu gewinnen. Auch Thomas Mücke vom Violence Prevention Network warnt vor einer "Charmeoffensive" durch Islamisten. Gerade bei minderjährigen Flüchtlingen müsse deshalb sehr gute Jugendarbeit geleistet und alles für eine erfolgreiche Integration getan werden. "Wir müssen uns diesen jungen Menschen zuwenden. Wenn wir es nicht tun, dann tun es die Extremisten. Dann sind die Jugendlichen in dem Milieu so verfangen, dass sie von außen kaum noch ansprechbar sind", betont Mücke. Passiere dies nicht, bestünde die Gefahr einer Radikalsierung, wenn Flüchtlinge in ihrem Alltag frustriert sind.
Flüchtlinge können Deutschland schützen
Während von vielen Seiten die Sicherheitsrisiken beschrieben wurden, haben sich zuletzt Experten zu Wort gemeldet, die in der deutschen Flüchtlingspolitik eine Chance für mehr Sicherheit sehen. So geht der Brite Robert Verkaik, Autor des Buches "Jihadi John" davon aus, dass die Aufnahme hundertausender arabischer Flüchtlinge Deutschland langfristig vor Terroranschlägen bewahren werde. Im britischen "Independent" schreibt Verkaik, dass Angela Merkels Regierung und die deutsche Bevölkerung mit ihrer Solidarität gezeigt hätten, dass Deutschland sich nicht in einem Kampf mit dem Islam befinde. Die Muslime im Land könnten sich quasi aus Dank und zur Abgrenzung von Radikalen an der Arbeit der Sicherheitsbehörden beteiligen. Ähnlich sieht das die ehemalige Homeland-Security Beraterin von US-Präsident George W. Bush (2004 - 2007), Frences Townsend. Die jetzige Leiterin des "Counter Extremism Project" glaubt, dass geflüchtete Syrer wertvolle Quellen für Geheimdienste sein könnten. Die Rechnung "weniger Flüchtlinge, weniger Terror" sei noch aus einem anderen Grund falsch. In den Flüchtlingslagern in und um Syrien sei die Gefahr der Radikalsierung viel größer als in Europa. Die Aufnahme von Flüchtlingen im Westen würde dem IS einen gefährlichen Rekrutierungsboden entziehen.
Auch der deutsche Innenminister hat die Möglichkeiten der Kooperation mit Flüchtlingen in seinem jüngsten Maßnahmenpaket herausgestellt. Im Kampf gegen Radikalisierung und Terror setzt Thomas de Maizière unter anderem auf eine neue Anlaufstelle für Flüchtlinge. Dort können sich Flüchtlinge mit Informationen über potentielle Täter in ihrem Umfeld an die deutschen Sicherheitsbehörden wenden.