Von Afghanistan nach Deutschland
27. September 2015Nazifa Hussaini war elf Jahre alt, als ihr Vater und ihre Onkel in Afghanistan getötet wurden. Damals, 1985, floh sie mit ihrer Mutter und ihren zwei Brüdern in den Iran. Wie Millionen anderer Afghanen, die im Iran oder in Pakistan Zuflucht suchten, floh Nazifa Hussainis Familie vor der Verfolgung durch das von der Sowjetunion gestützte Regime in Kabul. Im Iran traf Huassaini ihren späteren Ehemann – ebenfalls ein afghanischer Flüchtling – und bekam zwei Kinder mit ihm. Die Familie hoffte stets, irgendwann in die Heimat zurückzukehren. Denn das Leben als afghanischer Flüchtling, so erzählt die heute 41-Jährige, war nicht einfach in der Islamischen Republik. Flüchtlinge durften dort nicht arbeiten und ihre Kinder erhielten keine angemessene Bildung.
Der gefährliche Weg nach Europa
Schließlich entschied sich die Familie im Jahr 2010, nach Afghanistan zurückzukehren. Doch in Kabul nahm die Gewalt immer weiter zu; Nazifa Hussainis Ehemann wurde bald klar: Das Leben in dem Land war zu gefährlich für seine Frau und seine Kinder. Nach vier Jahren in der Heimat beschloss die Familie, sich auf die riskante Reise nach Europa zu machen.
"Wir waren fünfeinhalb Monate unterwegs. Es war sehr schwierig für die Kinder", sagt Nazifa Hussaini. Nachdem die vier die Türkei erreicht hatten, sei die Reise noch gefährlicher geworden, erzählt sie. Sie hätten von dort in einem winzigen, völlig überfüllten Boot das Mittelmeer überqueren müssen. "Die Schlepper haben uns einfach das Boot gegeben und uns einen Stern am Nachthimmel gezeigt. Wenn wir dem folgen würden, würden wir irgendwann Griechenland erreichen." Die Familie schaffte es an die griechische Küste. Seit letztem Dezember sind sie in Deutschland. "Viele Menschen sind auf dem Weg nach Griechenland umgekommen, aber wir hatten Glück", sagt Hussaini.
Der Fall der Familie von Nazifa Hussaini ist typisch. Immer mehr Menschen aus Afghanistan versuchen, der Armut und Unsicherheit in ihrem Land zu entkommen und machen sich auf den Weg nach Europa, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Wie viele Menschen Afghanistan verlassen ist unklar, es gibt keine offiziellen Zahlen. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) ertranken allein in der ersten Hälfte dieses Jahres 2340 Flüchtlinge aus Afghanistan im Mittelmeer auf ihrem Weg nach Europa.
Das lange Warten
Nazifa Hussaini lebt heute mit ihrer Familie in Köln. Dort können ihre Kinder endlich in dieselbe Schule gehen, wie die einheimischen Kinder. Noch haben die deutschen Behörden nicht über ihren Asylantrag entschieden.
Wegen der Rekordeinwanderung von Flüchtlingen in diesem Jahr sei es unklar, wie lange die Behörden brauchen, um die Asylanträge zu bearbeiten, sagt Einwanderungsanwältin Nadia Saberi. "Bis letztes Jahr hat ein Asylsuchender im Durchschnitt ein bis zwei Jahre warten müssen, bis das Bundesamt für Migration entschieden hatte, ob der Antrag angenommen oder abgelehnt wird." Die ständig wachsende Zahl von Flüchtlingen verlängere den Prozess nun noch weiter, sagt Saberi.
Das lange Warten sorgt für Frust bei vielen Asylsuchenden aus Afghanistan. Der 16-jährige Akmal Akhanzada kam im August nach Deutschland. Einige Flüchtlinge gerieten während der langen Wartezeit "auf die schiefe Bahn", sagt er gegenüber der DW. "Ich kenne Leute, die nehmen Drogen, weil sie schon seit Jahren warten und noch immer nicht wissen, was mit ihrem Asylgesuch passieren wird."
Trotz der prekären Lage in Afghanistan erkenne die Bundesregierung nicht an, dass sich das Land in einem "Kriegszustand" befinde, sagt Anwältin Saberi. Daher müssten Asylbewerber eine "direkte individuelle Bedrohung" nachweisen. Dennoch würde Deutschland keinen Afghanen zurückschicken, selbst dann nicht, wenn der Asylantrag abgelehnt werde, erklärt sie. In solchen Fällen stellten die Behörden befristete Dokumente aus, mit denen die Menschen vorerst im Land bleiben könnten. "Das deutsche Asylrecht hat sich zu Gunsten der Asylsuchenden verändert, aber noch immer können sie nicht frei arbeiten oder studieren, solange ihnen kein Asyl gewährt wurde", sagt die Anwältin und betont die schwierigen Umstände der Menschen nach ihrer Ankunft in Deutschland.
Konflikt ohne Ende
Dennoch ist es kaum möglich, weitere Afghanen davon abzuhalten, ihre Heimat zu verlassen. "Die Menschen in Afghanistan haben nicht nur Angst, sie sind auch enttäuscht von den sozio-politischen und wirtschaftlichen Aussichten des Landes", sagt Siegfried O. Wolf, Direktor des South Asia Democratic Forum (SADF) in Brüssel.
Nach Zahlen der Assistenzmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) wurden in der ersten Hälfte dieses Jahres fast 5000 Zivilisten in dem Land bei den Kämpfen zwischen den Sicherheitskräften und den Aufständischen getötet. Neben der Unsicherheit seien die schlechte Regierung, der Aufstieg des Islamismus und die Arbeitslosigkeit Schlüsselfaktoren für die Auswanderung, sagt Wolf. Allerdings könne die afghanische Regierung - zumindest kurzfristig - kaum etwas tun, um die Menschen davon abzuhaltn, das Land zu verlassen.