Von Wolf Biermann zum Mauerfall
4. November 2019"Der Stacheldraht wächst langsam ein, tief in die Haut, in Brust und Bein, ins Hirn, in graue Zelln", singt der Mann mit Schnauzbart und blau-weiß gestreiftem Hemd, sich selbst auf der Gitarre begleitend. "Umgürtet mit dem Drahtverband ist unser Land ein Inselland, umbrandet von bleiernen Welln."
Der Liedermacher heißt Wolf Biermann und er singt von seinem Deutschland, der DDR. An diesem 13. November 1976, mitten im Kalten Krieg, gibt es zwei deutsche Staaten: im Westen die Bundesrepublik, im Osten die DDR. Der Auftritt in der Kölner Sporthalle ist Biermanns erstes offizielles Konzert nach einem elf Jahre währenden Auftrittsverbot. In der DDR darf er seine frechen und staatskritischen Lieder nicht singen. Doch für diese Konzertreise hat die Staatsführung ihn in den Westen fahren lassen.
Musik gegen ein "System von Politbürokraten"
In den Liedern, wie der oben zitierten "Ballade vom preußischen Ikarus", nimmt er kein Blatt vor den Mund, kritisiert das ostdeutsche "Herrschaftssystem der Politbürokraten", das seine Bürger hinter Mauer und Stacheldraht einsperrt und auf "Republikflüchtlinge" an der Grenze schießt. Biermann selbst, der sich als kritischen Kommunisten sieht, wird vom Stasi (Staatssicherheit) genannten DDR-Geheimdienst als Staatsfeind betrachtet und seit Jahren überwacht und bespitzelt.
Das westdeutsche Publikum feiert Biermann mit stehenden Ovationen. "In der einen Hand die Gitarre, in der anderen den roten Nelkenstrauß, ließ ich mich feiern nach viereinhalb Stunden Singerei vor 7000 hinreißend lebendigen Menschen", erinnert er sich rückblickend an diese Glücksmomente.
"Aus, alles aus! Leben vorbei."
Drei Tage später. Wolf Biermann hat am Vorabend mit Freunden seinen 40. Geburtstag gefeiert. Nun sitzt er im Auto Richtung Bochum, wo er ein zweites Konzert geben soll. Im Radio laufen Nachrichten: "Die zuständigen Behörden der DDR haben Wolf Biermann, der 1953 aus Hamburg in die DDR übersiedelte, das Recht auf weiteren Aufenthalt in der Deutschen Demokratischen Republik entzogen."
Wolf Biermann ist schockiert: "Ich war wie in die Tonne getreten. Mir wurde elend vor Angst, dunkel vor Augen", schreibt er später in seiner Autobiografie über diesen Moment, “Aus! Alles aus! Leben vorbei.“ Denn anders als die "Republikflüchtlinge“ möchte Biermann ja überhaupt nicht raus aus der DDR, möchte sie mitgestalten, deshalb ist er ja als 16-jähriger übergesiedelt. Er will seine "solidarische Kritik an der DDR unverblümt singen und sagen". Das ist jetzt vorbei. Jahre später, als Biermann seine Stasi-Akten einsehen kann, wird ihm klar, dass seine Ausbürgerung offenbar schon lange geplant war. Die DDR-Führung hatte nur noch auf eine passende Gelegenheit gewartet.
DDR-Protestlawine: "Ausbürgerung bitte überdenken"
Die Ausbürgerung Biermanns löst eine Lawine von Protesten aus. Wenige Tage später veröffentlichen zwölf prominente DDR-Autorinnen und Autoren, unter ihnen Christa Wolf, Stephan Hermlin, Sarah Kirsch und Stefan Heym, einen offenen Brief an die DDR-Staatsführung: "Wolf Biermann war und ist ein unbequemer Dichter", heißt es darin unter anderem. "Unser sozialistischer Staat müsste eine solche Unbequemlichkeit gelassen nachdenkend ertragen können." Der Brief schließt mit einem Appell: "Wir protestieren gegen seine Ausbürgerung und bitten darum, die beschlossene Maßnahme zu überdenken."
Denn es ist eine äußerst extreme Maßnahme. Auch der Politikwissenschaftler Jochen Staadt, damals Student an der Freien Universität Berlin, hat das Biermann-Konzert im Fernsehen gesehen. "Das ist schon ein starkes Stück, dass das möglich ist, dass er da auftritt", hat er damals gedacht, wie er sich im DW-Gespräch erinnert. "Aber was dann passiert ist, konnte ich mir nicht vorstellen. Denn die Ausbürgerung von Menschen, die dem Regime widersprachen, war ja eine Praxis der Nationalsozialisten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die DDR diese Sanktion gegen einen der Ihren, der sich damals als Kommunist verstand, verhängt."
Ein kultureller Exodus
Den zwölf ersten Unterzeichnern schließen sich Hunderte weitere an. Die DDR-Führung reagiert mit Härte auf die Petition, setzt Künstler und Intellektuelle unter Druck, erteilt Berufsverbote, entlässt Künstler aus dem Staatsdienst. Einige der Unterzeichner distanzieren sich später von der Petition, aber es ist zu spät: Ein kultureller Exodus beginnt.
In den folgenden Monaten und Jahren verlassen zahlreiche Künstler und Intellektuelle die DDR, darunter Jurek Becker, Sarah Kirsch, Reiner Kunze, Manfred Krug, Nina Hagen und Günter Kunert. Es sind - wie Biermann - Menschen, die eigentlich gar nicht weg wollten, die die DDR nicht abschaffen, sondern zu einem besseren Staat machen wollten.
"BIERMANN"-Graffiti auf der Autobahn
Doch nicht nur Prominente protestieren. Vielerorts werden DDR-Bürger aktiv, verteilen Flugblätter und organisieren Protestaktionen. Unbekannte pinseln in fetten Buchstaben alle paar Kilometer den Schriftzug “BIERMANN“ mitten auf die Autobahn zwischen Berlin und Leipzig. Penibel registriert die Stasi im Bürokratendeutsch diese "feindlich-negativen, provokatorisch-demonstrativen und anderen politisch-operativ bedeutsamen Handlungen, die von Bürgern der DDR im Zusammenhang mit der Aberkennung der Staatsbürgerschaft von Biermann begangen wurden". Insgesamt listet die Akte mehrere Tausend Vorkommnisse, Aktionen und Flugblätter auf.
Für die DDR-Staatsführung geht der Schuss nach hinten los: Wolf Biermanns Ausbürgerung macht seine verbotenen Lieder erst richtig bekannt. Denn das Kölner Konzert wird im Westfernsehen, das viele Menschen in der DDR heimlich schauen, mehrmals wiederholt. Biermanns Lieder werden auf Kassetten aufgenommen und unter der Hand im Freundeskreis verteilt.
Der Beginn einer Bürgeropposition
"Keine DDR konnte kippen, weil sie irgendeinen Mann mit Gitarre ins deutsch-deutsche Exil jagt", analysiert Wolf Biermann seine Rolle rückblickend im Buch "Die Ausbürgerung" (Hrsg. Fritz Pleitgen). "Was Deutschland damals erschüttert hat, am meisten die DDR selbst, war der Protest gegen diese Ausbürgerung. Damit hatte auch im Osten kein ausgebuffter Machtapparatler rechnen können, denn dafür gab es keine Erfahrungen."
Die Proteste sind "der Beginn einer Bürgeropposition, die sich über die Jahre ausgeweitet hat", sagt auch Jochen Staadt, Politologe und Mitglied des Forschungsverbundes SED. "Leute haben den Fall Biermann zum Anlass genommen, zu sagen: Ihr habt Biermann ausgewiesen - ich will auch raus." Und davon gibt es immer mehr: Bis Mitte 1989 liegen zwischen 100.000 und 150.000 Ausreiseanträge vor.
Mauerfall: Der "Drahtverband" ist endlich weg
Am 9. November 1989 fällt die Berliner Mauer. Ermöglicht durch die Reformen des sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow, der den anderen Ostblock-Staaten schließlich Eigenständigkeit zugesichert hat, führen die Massenflucht in den Westen und der Druck der friedlichen Demonstrationen zum Zusammenbruch des SED-Regimes in der DDR.
Drei Wochen später, am 1. Dezember 1989, gibt Wolf Biermann in Leipzig sein erstes Konzert in der DDR - nach 25 Jahren Auftrittsverbot und 13 Jahre nach seiner Ausbürgerung. Auch dieses Mal singt er die "Ballade vom preußischen Ikarus". Aber jetzt endlich ist die DDR kein "vom Drahtverband umgürtetes Inselland" mehr. Die Grenzen sind offen.
Um an den 30. Jahrestag des Mauerfalls und des Tiananmen-Massakers zu erinnern, fand am 4. November im Hamburger Thalia Theater eine Lesung mit Musik mit Wolf Biermann und seiner Frau Pamela sowie den chinesischen Dissidenten Liao Yiwu, Lang Dan und Peigen Wang statt.