Vor 40 Jahren: Kriegsrecht in Polen
10. Dezember 2021Der 13. Dezember 1981 war in Warschau ein kalter und sonniger Sonntag, wie geschaffen für einen Stadtbummel. Wer allerdings am Morgen die Wohnung verließ, um in die Kirche zu gehen - es war der dritte Advent-, mit Kindern Schlittschuh zu laufen oder eine Zeitung zu kaufen, machte erschrocken auf dem Absatz kehrt. Durch die schneebedeckten Straßen der Hauptstadt fuhren statt Bussen Kampfpanzer. Bewaffnete Soldaten bewachten Regierungsgebäude und andere strategische Objekte. Milizionäre kontrollierten Autos und Passanten. Wer mit Flugblättern in der Tasche erwischt wurde, wurde abgeführt.
Tote Telefone und der General im Fernsehen
Wer später zu Hause zum Telefon griff, um sich mit Freunden auszutauschen, musste feststellen, dass alle Verbindungen gekappt waren. Wer bei der Suche nach Informationen den Fernseher einschaltete, bekam einen General zu sehen - den Partei- und Regierungschef Wojciech Jaruzelski, der die Verhängung des "kriegerischen Zustands" verkündete. "Unser Vaterland steht am Rande des Abgrunds", sagte der General mit grimmiger Stimme. "Nicht Tage, sondern nur noch Stunden trennen uns von einer Katastrophe nationalen Ausmaßes", begründete Jaruzelski seine Entscheidung. Die Schuld für den drohenden Untergang Polens schob er der Oppositionsbewegung Solidarnosc in die Schuhe.
Seit der Streikwelle an der polnischen Ostsee-Küste im Sommer 1980, die zur Anerkennung der von Lech Walesa geleiteten Gewerkschaft Solidarnosc geführt hatte, war in Polen eine Art Doppelherrschaft entstanden. Die nationale Bewegung, die bald zehn Millionen Mitglieder zählte und aus ihrer antikommunistischen Einstellung keinen Hehl machte, baute mit Streiks und Protesten Schritt um Schritt ihre Macht aus. Publizisten nannten diese Zeit später "Karneval der Freiheit".
Die geschwächte und zerstrittene Regierungspartei, die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PVAP), wich immer wieder zurück, war aber nicht bereit, die Macht mit der Opposition zu teilen, geschweige denn, die Macht abzugeben. Lebensmittelmarken wie im Krieg sollten die Versorgungsengpässe mildern - vergebens. Die Bilder von Geschäften mit leeren Regalen und von Menschen, die Toilettenpapier als größte Trophäe nach Hause brachten, wurden zu traurigen Ikonen der damaligen Wirtschaftsmisere.
Moskau ärgert sich über polnische Genossen
Die Genossen in Moskau zeigten den polnischen Kameraden demonstrativ ihre Unzufriedenheit. Gemeinsame Manöver der Truppen des Warschauer Pakts im Dezember 1980 und im März/April 1981 dienten als Druckmittel auf Warschau und erinnerten wohl absichtlich an den Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968. "Wir müssen ständigen Druck ausüben", sagte der Generalsekretär der KPdSU, Leonid Breschnew, laut einem Politbüro-Protokoll vom 16. April 1981. Ob Moskau wirklich bereit war, in Polen einzumarschieren oder auf diese Weise die Genossen in Warschau nur eingeschüchtert werden sollten, bleibt bis heute unter Historikern strittig.Weil die Partei offensichtlich beim Versuch scheiterte, Solidarnosc unter ihre Kontrolle zu bringen, schlug die Stunde der Militärs. General Jaruzelski wurde zunächst zum Regierungschef ernannt, später übernahm er auch die Parteiführung und konzentrierte die ganze Macht in seinen Händen. Er besetzte alle wichtigen Schaltstellen in der Verwaltung mit Vertrauten in Uniform.
Schlag gegen Solidarnosc
In der Nacht zum 13. Dezember 1981 übernahm der Militärrat zur nationalen Rettung (WRON) die Macht im Lande. 70.000 Soldaten mit 1750 Kampfpanzern und 30.000 Milizionäre wurden landesweit mobilisiert, um den Widerstand der Opposition zu brechen. 3000 Solidarnosc-Aktivisten, darunter fast die gesamte Gewerkschaftsführung mit Lech Walesa an der Spitze, wurden in den ersten Stunden des Kriegsrechts verhaftet und interniert. Streik- und Versammlungsfreiheit wurden aufgehoben, eine Ausgangssperre eingeführt. Solidarnosc wurde verboten und später aufgelöst.
Trotz des Überraschungseffekts gelang es Solidarnosc, Belegschaften in einigen Betrieben zu mobilisieren, um diese gegen anrückende Militär- und Miliz-Einheiten zu verteidigen. Die heftigsten Kämpfe entbrannten am 16. Dezember 1981 um die Kohlegrube "Wujek" in Kattowitz. Beim Sturm auf die Zeche wurden neun Bergleute erschossen.
Pyrrhussieg der Militärs
Der Junta gelang es relativ schnell, Solidarnosc als antikommunistische Massenbewegung auszuschalten und die Macht des alten Systems wiederherzustellen. Bis Ende 1982 wurden knapp 10.000 Menschen interniert, fast 12.000 wurden von Militärgerichten verurteilt. Im Juli 1983 wurde das Kriegsrecht aufgehoben.
Das Land verfiel in eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Stagnation. Hunderttausende vorwiegend junge Polinnen und Polen kehrten dem Land den Rücken und emigrierten, vor allem in die Bundesrepublik Deutschland. Die Auslandsverschuldung stieg auf die damals gigantische Summe von 40 Milliarden US-Dollar. Das Land war praktisch bankrott und politisch isoliert. Mehrere politische Morde wie der an dem Priester Jerzy Popieluszko, der von Beamten des Innenministeriums getötet wurde, erschütterten die polnische Öffentlichkeit.
Gorbatschow betritt die Bühne
Erst die Veränderungen auf der weltpolitischen Bühne brachten Hoffnung. Perestroika und Glasnost von Michail Gorbatschow, der seit 1985 das Sagen im Kreml hatte, eröffneten der Opposition wieder mehr Spielraum.Zwei Streikwellen im Jahr 1988 zeigten, dass Solidarnosc zwar zerschlagen, aber nicht besiegt wurde. Eine neue Generation von Arbeitern trotzte der Staatsmacht. Diese Erkenntnis führte 1989 zu Gesprächen am sogenannten Runden Tisch und zur ersten halbfreien Parlamentswahl im gesamten Ostblock. Knapp acht Jahre nach seiner Internierung wurde der Solidarnosc-Berater Tadeusz Mazowiecki zum polnischen Ministerpräsidenten gewählt. Ein Jahr später wurde der Arbeiterheld Lech Walesa Polens Staatspräsident.
Verräter oder Held?
Bis zu seinem Tod im Jahr 2014 stritten sich Politiker und Historiker über die Rolle von Jaruzelski. Viele sahen in ihm einen Landesverräter, der Panzer und Soldaten gegen das eigene Volk schickte, um die Macht der Partei zu retten. Andere feierten ihn als einen Helden, der das Land vor der sowjetischen Invasion und damit vor einem Blutbad gerettet hat.
2011 besuchte Lech Walesa den schwerkranken General im Krankenhaus und reichte ihm die Hand. Ob er ihm verziehen hat? Im DW-Interview sagt Walesa, auch Jaruzelski sein ein Patriot gewesen, der sein Land vor den Sowjets habe retten wollen - aber auf seine Art. "Ich habe nicht gegen Jaruzelski, gegen die Staatssicherheit, gegen Agenten gekämpft. Ich habe gegen das System gekämpft", so Walesa.
In seinem Buch "Älter um 30 Jahre" schrieb Jaruzelski: "Ich bitte um Entschuldigung für die einschneidenden Folgen des Kriegsrechts (…). Aber es war der einzige Ausweg und hat sich als sinnvoll erwiesen. Es war das kleinere Übel, aber selbst ein solches ist immer auch schlecht."