Sowjetunion griff Polen an
17. September 2009Tief in Gedanken versunken sitzt Michal Piotrowski vor seinem Haus in Breslau. Die Morgensonne strahlt ihm ins Gesicht, ein schöner Septembertag beginnt - wie vor 70 Jahren. Doch der 90jährige ist bedrückt. Piotrowski erinnert sich an den 17. September 1939, den Tag als sowjetische Truppen in Ostpolen einmarschierten: "Das war der Anfang eines schrecklichen Krieges", sagt er. Flugzeug um Flugzeug donnerte über seinen Kopf hinweg. "Sie flogen sehr tief und warfen Bombe um Bombe ab", erzählt der alte Mann und wischt sich dabei eine Träne aus dem Gesicht. "Die Russen haben einfach alles bombardiert und auch auf dem Boden wurde die ganze Zeit über geschossen". Man habe sich einfach nirgendwo verstecken können. "Die Rote Armee hat sich gegen uns Polen so grausam verhalten. Das war ein schreckliches Erlebnis für mich".
Sowjetischer Überfall als Folge des "Hitler-Stalins-Pakts"
Piotrowski war damals gerade 20 Jahre alt. Er lebte in einem Dorf unweit von Lemberg. Heute liegt dieses in der Ukraine, damals gehörte das Gebiet zu Polen. 70 Jahre sind seit dem sowjetischen Angriff vergangen, doch die Bilder des Krieges hat Piotrowski immer noch so vor Augen, als wäre es gestern geschehen. Mit seinen Eltern und anderen Leuten aus dem Dorf ist er vor der Roten Armee in den Wald geflohen. Sie hatten gehofft, dort ein gutes Versteck zu finden. "Aber wir sahen auch dort die Russen mit Waffen auf uns zu kommen und sie schossen, ohne zu fragen, wer wir sind." Auf der Flucht lief Piotrowski mit den anderen zurück in sein Dorf. "Wir kamen dort an und da fielen zwei Bomben ganz in der Nähe von uns. Es ist ein echtes Wunder, dass ich überlebt habe", fügt der alte Pole nach einer kurzen Pause hinzu und schüttelt dabei ungläubig den Kopf.
Der Überfall der Sowjetunion auf Ostpolen fand in geheimer Absprache mit Deutschland statt. Die beiden Länder hatten im so genannten "Hitler-Stalin-Pakt" vom 23.08.1939 vereinbart, Polen zu zerschlagen und untereinander aufzuteilen. Nach dem sowjetischen Angriff folgten Massendeportationen und Zwangsumsiedlungen. Die polnischen Bürger wurden verhaftet, gefoltert und erschossen, allen voran Offiziere, Soldaten und Intellektuelle. "700.000 bis eine Millionen Menschen fielen den Repressalien der russischen Armee zum Opfer", schätzt der Historiker und ehemalige Europaparlamentarier Wojciech Roszkowski.
Die sowjetische Besatzungszeit dauerte anderthalb Jahre, bis Deutschland am 22. Juni 1941 die Sowjetunion angriff. Innerhalb dieser Zeit deportierte die Sowjetunion rund eine halbe bis eine Millionen Polen in Arbeitslager im tiefen Osten der Sowjetunion. Mehrere tausend polnische Offiziere wurden durch Einheiten des sowjetischen Innenministeriums während des Krieges in Katyn, Charkow oder Mednoje ermordet. "Nur weil sie Polen waren, also nicht wegen ihrer Taten, sondern wegen ihrer Nationalität wurde ihnen das angetan", resümiert Roszkowski, der diesen Abschnitt der polnischen Geschichte seit Jahren erforscht.
Tabuthema Sowjetangriff
Doch die Gräueltaten der Sowjetunion in Polen wurden während des Kommunismus von offizieller Seite verfälscht oder verschwiegen. Es ging darum, kein schlechtes Licht auf Moskau zu werfen. "So wurde zum Beispiel der Einmarsch der Roten Armee in Polen damit begründet, dass die Sowjetunion die auf polnischem Gebiet lebenden Ukrainer und Weißrussen vor dem deutschen Aggressor schützen wollte", so Rsozkowski. Über die wahren Gründe wurde, wenn überhaupt, nur im Familienkreise und dann hinter vorgehaltener Hand gesprochen.
Erst nach dem Zusammenbruch des Kommunismus kam die tatsächliche Geschichte an die Öffentlichkeit. "Das Bewusstsein Polens ändert sich also allmählich", bemerkt der Historiker. "Heute wissen die meisten Polen, was am 17.09.1939 passiert ist und dieses Datum wird mit dem 01.09.1939 gleichgesetzt", sagt er weiter.
Gestörtes Verhältnis zwischen Polen und Russland
Dass die Sowjetunion eine Mitschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges trägt, davon sind auch heute noch 73 Prozent der Polen überzeugt, wie Umfragen zeigen. Doch die polnische Abneigung gegen Russland richtet sich nicht gegen die Bevölkerung. "Die Polen haben nur kein Vertrauen zu Russland als Staat und sie haben auch gute Gründe dafür," betont Roszkowski und fragt: "Wie soll man dem Staat vertrauen, wenn er versucht die Geschichte des Zweiten Weltkrieges zu verfälschen oder neu zu deuten?" Moskau hat Polen erst jüngst wieder unterstellt, eine direkte Mitschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und der Zerschlagung des eigenen Staats zu tragen. Diese Aussagen würden unter der polnischen Bevölkerung für viel Aufregung sorgen und ganz aktuell das Verhältnis zwischen den beiden Staaten belasten. Roszkowski sieht das zukünftige Verhältnis zwischen den beiden Staaten kritisch. "Wir wollen die besten Beziehungen zu Russland haben, aber wenn wir hören, wie sie die Geschichte verfälschen, dann sehe ich schwarz."
Die sowjetische Besatzung und die damit verbundenen Gräueltaten sitzen tief im kollektiven Gedächtnis der Polen. Auch das von Moskau installierte kommunistische Regime nach Kriegsende hiterließ tiefe Narben, gerade weil die Erinnerungen an die kommunistischen Zeiten in breiten Teilen der polnischen Bevölkerung noch hellwach sind.
Autor: Justyna Bronska
Redaktion: Heidi Engels