Spannungen in Belgrad
12. April 2019Die regierungsnahen Boulevardblätter überbieten sich in Serbien mit martialischen Schlagzeilen: "Die Wilden wollen den Bürgerkrieg". Das Verteidigungsministerium ließ verlautbaren, dass die Armee auf keinen Fall einen gewalttätigen Umsturz der legitimen Regierung unterstützen werde. Das ist nichts Neues. In den sieben Jahren, in denen Aleksandar Vučić und seine Serbische Fortschrittspartie (SNS) in Serbien das Sagen haben wurden in den regierungsnahen Medien mehrmals Staatsstreiche und Kriege angekündigt. Mit dieser Angst hält Vučić, der einen Hang zum Autoritäten zeigt, seine Reihen zusammen und verteufelt die politischen Gegner. Ähnlich geht er diesmal am Vorabend einer Großkundgebung protestierender Bürger und der Opposition am Samstag (13.04) vor. "Wenn wir ein normales Land wären, hätte die Staatsanwaltschaft bereits reagiert, denn das ist schiere Panikmache", meint der Oppositionspolitiker Dragan Djilas.
Nervosität der Staatsspitze
Seit 2012 ist Aleksandar Vučić - egal ob Vizepräsident, Ministerpräsident oder Staatschef - das absolute Alfa-Tier der serbischen Politik. In der Milošević-Ära präsentierte er sich als radikal-chauvinistischer Informationsminister. Inzwischen wurde aus ihm ein Befürworter der EU-Mitgliedschaft. Seine Partei regiert mit einer bequemen Mehrheit und kontrolliert weite Teile der Medienlandschaft. Ohne Parteibuch kann man in Serbien kaum etwas werden. Junge gebildete Menschen verlassen in Scharen das Land. Das in den regierungstreuen Medien inszenierte Bild und die serbische Realität klaffen zunehmend auseinander. Verbale und auch in einigen Fällen physische Gewalt gegen Andersdenkende, die Unmöglichkeit gegen die Willkür effizient rechtlich vorzugehen, Korruption sowie die täglich in den Äußerungen der Staatsspitze spürbare Machtarroganz empört immer mehr Bürger. Seit dem 8. Dezember versammeln sie sich einmal wöchentlich zu lautstarken Protesten in mehr als 100 serbischen Städten.
Große Inszenierungen und Verleumdungen
Mit der Inszenierung des Staatsbesuchs von Vladimir Putin am 17. Januar 2019 und mit einer Reihe politischer Kundgebungen in Serbien, bei denen sich Vučić von seinen Parteianhängern für die Erfolge seiner Politik feiern lässt, will er die Proteste kleiner erscheinen lassen. Diese Rechnung geht nicht ganz auf. Die oppositionellen Politiker fühlen sich in den Nachrichtenprogrammen des staatlichen Fernsehen RTS dermaßen marginalisiert, dass sie sich am 16. März mit einigen Mitstreitern und Demonstranten Zugang zum Gebäude des staatlichen Fernsehens RTS verschafften. Sie wurden von der Polizei hinaus eskortiert. Die Regierenden stellten das als Gewalt gegen die Medienfreiheit dar.
Inzwischen erhält die Großdemo (am 13.4.) weitere Brisanz. Der serbische Verteidigungsminister Aleksandar Vulin sowie alle Abgeordneten der regierenden Serbischen Fortschrittspartei (SNS) im Staatsparlament sowie Mitarbeiter im Rathaus der Hauptstadt Belgrad kündigten einen Hungerstreik an. Als Grund nannten sie die Schikanen der oppositionellen Minderheit über die regierende Mehrheit. Gemeint sind die andauernden Protestkundgebungen der Bürgerbewegung und Opposition, die teilweise die Hauptstadt lahmlegen.
Der Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Belgrad Max Brändle stellt fest: "Die öffentliche Meinung gewinnt wohl diejenige Seite, die sich glaubwürdiger als Opfer inszenieren kann: durch Unterdrückung und Polizeigewalt, oder durch gewalttätige, randalierende Demonstranten. Vučić ist dabei aufgrund einer staatlich gelenkten und abhängigen Medienlandschaft im Vorteil."
Mittelschicht gegen Establishment
Gemeinsam mit dem serbischen Forschungsinstitut SeConS hat die Friedrich-Ebert-Stiftung eine repräsentative Umfrage unter den Demonstrierenden durchgeführt. Die Ergebnisse fasst Max Brändle so zusammen: "Es protestiert ein breites Bündnis hauptsächlich jüngerer und überdurchschnittlich gebildeter Menschen der Mittelschicht Serbiens, die parteipolitisch nicht gebunden ist. Medienfreiheit, Demokratie und eine Ablösung der Staatsführung sind ihre wichtigsten Motive". Brändle fügt hinzu, dass Präsident Vučić vergleichsweise nervös auf die langanhaltenden Proteste reagiere: "Vučić verschärft nun zusehends den Ton. Zuletzt hieß es, es seien Faschisten und Randalierer in Belgrad am Werk, die ihm selbst ans Leben wollten".
Teile der zersplitterten Opposition schlossen sich im vergangenen Herbst zu einem Bündnis für Serbien zusammen. Neben liberalen Politikern, die aus der ehemals regierenden Demokratischen Partei (DS) hervorgingen, wie z.B. der vormalige Bürgermeister von Belgrad, Dragan Djilas, gehört dem Bündnis auch die kleinere nationalistische Partei "Dveri" an. "Ob es dem 'Bündnis für Serbien' nun gelingt, die Dynamik der Proteste in politisches Kapital umzumünzen oder nicht, und wer dabei die Oberhand gewinnt - Djilas und die DS oder Obradović und seine rechtsradikale Dveri, bleibt einstweilen offen", betont Max Brändle. Die FES-Untersuchung zeigt eindeutig, dass die größte Mehrheit der protestierenden Bürger in der politischen Mitte angesiedelt ist. Die Sympathisanten der Dveri sind mit insgesamt vier Prozent nur am Rande vertreten.
Mehr oder weniger Freiheit?
Einer der Demonstranten der ersten Stunde ist auch der 56-jährige Fernsehproduzent Vladimir Milić. Er nennt zwei Gründe für sein Engagement: "Erstens möchte ich aus professionellen Gründen die Proteste unmittelbar erleben. Zweitens möchte ich mit anderen Bürgern mitschreien - so wie es ist, ist es nicht gut". Seiner Meinung nach hätten die bisherigen Proteste vor allem eine massive Angstbefreiung ausgelöst: "Die Menschen erfahren durch die Proteste, dass sie nicht allein mit ihrer kritischen Haltung sind, dass sie frei sind".
Der Jahresbericht 2019 der internationalen Nichtregierungsorganisation Freedom House stellt einen Rückschritt Serbiens in Sachen Freiheit fest - das Land wird nicht mehr als "frei", sondern als nur noch "teilweise frei" eingestuft. Ministerpräsidentin Ana Brnabić stellte im Februar die Objektivität des Jahresberichts öffentlich in Frage: "Ich empfinde nicht, dass wir in einem nur teilweise freien Land leben, sondern in einem freieren Land als vor einigen Jahren".
Chance und Gefahr
"Die gesamte Atmosphäre in der Gesellschaft ist brandgefährlich und politisch unverantwortlich. Wenn die Antwort der Regierenden wie bisher ausfällt, werden die Proteste einen weiteren Auftrieb bekommen. Je größer die Diskrepanz zwischen Realität und Propaganda, desto größer die Spannung, die in eine gefährliche Gewalt ausarten kann, was hoffentlich niemand will", sagte Milić. Max Brändle sieht in den friedlichen Protesten ein demokratisches Potenzial: "Angesichts der beklagenswerten Aushöhlung der demokratischen Institutionen in den letzten Jahren sind die Proteste ein Lebenszeichen demokratischer Kultur in Serbien".
Vladimir Milić betont etwas anderes: "Mir scheint es so zu sein, dass die Bürger in Serbien die Werte verteidigen, welche die EU zumindest in Serbien bereits aufgegeben hat". Präsident Vučić kündigte bereits für 19. April eine Großkundgebung seiner Anhänger in Belgrad an - "die größte in den vergangenen 40 bis 50 Jahren". Die würde zeigen, dass seine Unterstützer in der Überzahl seien.