Keine Demokratieabkehr
25. Juni 2018"Ich kann die Ansicht nicht teilen, dass alle Wähler der AKP Anti-Demokraten seien", sagt Gökay Sofuoglu, Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde Deutschlands im DW-Interview. Er fordert eine differenzierte Betrachtung. Und er erhält Zustimmung von vielen Experten, die sich mit den Wählern Erdogans in Deutschland auseinandersetzen. Zum Beispiel von Haci-Halil Uslucan vom Zentrum für Türkeistudien an der Universität Duisburg-Essen. "Wir erleben eine Polarisierung. Dieselben Personen, die Erdogan wählen, unterstützen in Deutschland, sofern sie hier mit einer doppelten Staatsbürgerschaft Wahlrecht haben, Parteien, die eine demokratische Grundauffassung vertreten." Vor allem Parteien, die eine den Migranten zugewandte Politik betreiben, würden unterstützt, so Uslucan. Große Zustimmung (35 Prozent) erhielt so bei den Deutschtürken zum Beispiel die SPD bei der letzten Bundestagswahl. Eine Studie der Universität Duisburg-Essen nach der Bundestagswahl 2017 stellt für die Union eine Zustimmung von rund 20 Prozent fest.
Ablehnung der Ausgrenzung
Kritisiert wird derzeit vor allem die Integrationspolitik in Deutschland: "Es ist schlecht, wenn sich immer wieder vermittelt, dass unter der Oberfläche eigentlich doch anders gedacht wird und 'Multi-Kulti' gescheitert sei", fasst es Gökay Sofuoglu zusammen. Dafür habe es immer wieder in jüngster Vergangenheit Beispiele gegeben, so Sofuoglu.
Die türkischstämmigen Fußballspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan wurden von Teilen des Publikums ausgepfiffen. Weil sie sich mit einem gemeinsamen Foto zu Präsident Erdogan bekannten. Es sei wieder ein Zeichen für das Gefühl, dass Menschen mit türkischer oder doppelter Staatsbürgerschaft in Deutschland doch nicht wirklich zur Gesellschaft dazugehören würden. Solche Signale stärkten die Zustimmung für Erdogan.
Erdogan punktet mit Vergangenheit
Talat Kamran vom Mannheimer Institut für Integration und interreligiösen Dialog blickt weniger auf vermeintliche oder tatsächliche Missstände in Deutschland, als vielmehr auf die Herkunft der Erdogan-Wähler hierzulande. "Viele Deutschtürken haben ihre Wurzeln in Anatolien." Das konservative Milieu und die religiöse Verwurzelung überwiegt. Erdogan sei daher "einer von ihnen". Für die Menschen der zweiten und dritten Generation der in den frühen 1970er Jahren zugezogenen Gastarbeiter sei und bleibe Erdogan nicht nur eine Identifikationsfigur, sondern ein Erfolgsgarant. Auf ihn könne man stolz sein. Mit ihm sei man aufgestiegen und habe wieder Bedeutung erlangt. Die Außenpolitik habe sich vom Bittsteller der USA emanzipiert und Erdogans Türkei sichere in den Augen der Wähler eine kleine Regionalmacht, so Kamran.
"Es ist unbestritten so, dass Erdogan seit 2002 das Bruttoinlandprodukt der Türkei gesteigert hat". Das Wachstum sei auch größer als in Ländern wie Bulgarien oder Rumänien, sagt Prof. Heinz-Jürgen Axt, führender Südosteuropaforscher und Politologe. Muharrem Ince mit seiner Oppositionspartei CHP habe allein aufgrund der Kürze der Zeit nicht so viel gegen die Wirtschaftsargumente Erdogans setzen können.
Nachteile zählen kaum
Die jüngsten wirtschaftlichen Probleme mit einer schwachen Währung hätten viele Erdogan-Wähler in Deutschland schon deshalb nicht so wahrgenommen, weil sie im "Heimaturlaub" von einem starken Euro profitieren würden. "Die Wirtschaftsfrage ist in der Türkei noch nicht so weit, dass die Menschen das in ihren Geldbeuteln spüren". Gökay Sofuoglu vermutet, dass Erdogan im Bewusstsein einer "wirtschaftlichen Zeitbombe" schon deshalb die Wahlen zeitlich so weit vorgezogen habe, dass er im Falle einer wirtschaftlichen Verschlechterung der Lage größere Machtinstrumente in der Hand halte.
Nahezu alle Gesprächspartner bestätigen, dass man bei der Betrachtung des Wählerverhaltens nicht von den üblichen, westlichen Maßstäben ausgehen dürfe. Für viele Deutschtürken würden die bisherigen wirtschaftlichen Erfolge der Türkei einfach mehr zählen, als die kritisierte Missachtung von Menschenrechten, die Angriffe auf Medienvertreter oder das Verhalten Erdogans gegenüber den Kurden. Eine generelle Missachtung der Demokratie könne man daraus nicht schließen. Der Blick sei ausschließlich in die Türkei gerichtet. Die Journalistin Cigdem Akyol begründete die türkische Sichtweise in ihrem Buch "Generation Erdogan" damit, dass die Türkei nach vier Militärputschen eine lange Phase der Stabilität erlebe. Die schreibe man Erdogan zu. Das habe aber mit dem Leben in Deutschland oder gar einer generellen Abkehr von westlichen Werten nichts zu tun.