1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Unrecht an Sinti und Roma nach 1945 aufarbeiten

Gilda-Nancy Horvath
4. Oktober 2023

Im "Forum Sinti und Roma" wurde über Ansätze einer "Wahrheits-Kommission" diskutiert, die das fortgesetzte Unrecht an Sinti und Roma in Deutschland nach 1945 aufarbeiten soll. Diese könnte bereits 2024 aktiv werden.

https://p.dw.com/p/4X67f
Forum Sinti und Roma: Mehmet Daimagüler, Beauftragter der Bundesregierung gegen Antiziganismus (Berlin, 2. Oktober 2023)
Forum Sinti und Roma: Mehmet Daimagüler, Beauftragter der Bundesregierung gegen Antiziganismus (Berlin, 2. Oktober 2023)Bild: Gilda Horvath/DW

Das "Forum Sinti und Roma" mit dem Titel "Nationalsozialistische Verbrechen anerkennen. Zweite Verfolgung aufarbeiten. Anhaltende Folgen bekämpfen" war der erste Kongress des Beauftragten der Bundesregierung gegen Antiziganismus und für das Leben der Sinti und Roma, Mehmet Daimagüler.

Daimagüler kündigte an, dass eine sogenannte "Wahrheits-Kommission" voraussichtlich Anfang des kommenden Jahres ihre Arbeit aufnehmen werde. Diese solle unter Beteiligung der betroffenen Sinti- und Roma Communities die fortgesetzte Kriminalisierung und Benachteiligung durch staatliche Institutionen in Deutschland untersuchen und aufarbeiten. Zu den Aufgaben der Kommission gehöre auch die Erarbeitung von Handlungsempfehlungen für die Politik.

Roma-Flagge vor dem Berliner Justiz
Roma-Flagge am Internationalen Roma-Tag vor der Berliner Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung (08.04.2022)Bild: Omer Messinger/Getty Images

"Das Narrativ über die Sinti und Roma wurde den Tätern überlassen", sagte der Bundesbeauftragte gegen Antiziganismus auf dem Forum, das Anfang Oktober 2023 in Berlin stattfand. Damit widersprach er der Auffassung, dass es nach 1945 eine "Stunde Null", einen Bruch mit den Denkweisen der Nationalsozialisten gegeben habe. "Die Kriminalisierung von Sinti und Roma geht weiter", unterstrich der Antiziganismusbeauftragte. Dies resultiere in der Ausgrenzung der Menschen bis in die Gegenwart, zum Beispiel am Wohnungs- und Arbeitsmarkt sowie in der Bildung. Besonders wichtig sei daher die Unabhängigkeit der Kommission, die nicht nur aus Forschenden, sondern mindestens zur Hälfte auch aus Betroffenen bestehen soll.

"Ethnic Profiling"

Auch die Kriminalisierung aufgrund der Ethnie ("Ethnic Profiling") wurde beim Forum mit dem Workshop "Antiziganismus und die Polizei" thematisiert. Unter dem Deckmantel der Bekämpfung sogenannter "Clan-Kriminalität" würden Maßnahmen getroffen, die weit über die Befugnisse der Polizei hinausgingen, sagte Daimagüler.

Als Beispiel nannte er den Fall eines elfjährigen Jungen, der grundlos auf der Straße kontrolliert und dann in Handschellen abgeführt worden sei. Der Junge wurde auf einer Polizeiwache festgehalten, seine Eltern wurden nicht informiert. Auch durfte er keinen Kontakt zu ihnen aufnehmen, solange er auf der Wache war. Dabei hatte sich der Junge nichts zu Schulden kommen lassen. Vier Polizeibeamte sind mittlerweile wegen Freiheitsberaubung und Nötigung mit Geldstrafen belegt worden.

Demonstration gegen Antiziganismus (Berlin, 3.03.2012)
Demonstration gegen Antiziganismus (Berlin, 3.03.2012)Bild: Christian Ditsch/imago

Die Ahndung solcher Delikte sei eine Seltenheit, so Daimagüler, da vielen Betroffenen die finanziellen Mittel für einen Anwalt fehlten. Zudem hätten die Menschen aufgrund ihrer Diskriminerungserfahrung zuviel Angst, das geschehene Unrecht anzuzeigen. Daher werde auch der Aufbau eines Rechtshilfe-Netzwerks in Erwägung gezogen. Zudem solle die bereits aktive Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA) dazu beitragen, Fälle von Diskriminierung der Sinti und Roma sichtbar zu machen. Im aktuellen Bericht der Meldestelle wurden 2022 mehr als 600 Fälle verzeichnet.

Diese und andere Maßnahmen waren bereits von der Unabhängigen Kommission Antiziganismus (UKA) empfohlen worden. Die vom Bundesinnenministerium beauftragte UKA lieferte im Juli 2021 einen 800 Seiten starken Bericht, der auf den Daten aus insgesamt zwölf Studien fußt. Er belegt wissenschaftlich die nach 1945 fortgesetzte Diskriminierung von Sinti und Roma in Deutschland. Demnach finden rund zwei Drittel aller Diskriminierungserfahrungen von Sinti und Roma im Kontext staatlicher und öffentlicher Institutionen und Behörden statt. Der Bericht stelle eine wichtige Basis für die gesamte Arbeit des Bundesbeauftragten gegen Antiziganismus dar, so Daimagüler abschließend.

Das Forum Sinti und Roma, das Selbstorganisationen der Communities und Persönlichkeiten aus Politik und Philanthropie in einen Dialog gebracht hat, soll auch 2024 stattfinden.