Umstrittene Pushbacks: Legal oder illegal?
7. Oktober 2021Die Investigativjournalisten aus mehreren europäischen Ländern konnten an fünf verschiedenen Stellen an der bosnisch-kroatischen Grenze offensichtliche sogenannte Pushbacks mit der Kamera dokumentieren. Auf den Aufnahmen, die zwischen Mai und September 2021 entstanden sind, wurden elf Fälle dokumentiert, in denen irregulär Eingereiste zwangsweise ausgewiesen wurden. Mehr als 140 Menschen sollen dabei offensichtlich ohne Prüfung ihrer Schutzwürdigkeit über die grüne Grenze abgeschoben worden sein.
Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen gab es im vergangenen Jahr alleine an der kroatisch-bosnischen Grenze mehr als 16.000 Pushbacks. Entsprechende Vorfälle wurden zuletzt auch an der Grenze zwischen Belarus und Polen beobachtet und sind auch immer wieder Gegenstand der Berichterstattung an der türkisch-griechischen Grenze und auf hoher See.
Die gewaltsame Zurückweisung von irregulär Eingereisten werden von Politikern und Menschenrechtsorganisationen seit vielen Jahren kritisiert. "Pushbacks sind schlicht und einfach illegal", so Gillian Triggs, stellvertretende UN-Flüchtlingshochkommissarin. Doch "Pushback" ist ein politischer Begriff, der juristisch nicht klar definiert ist. Die Rechtslage an den Grenzen ist komplex.
Darf ein Land Menschen gewaltsam an der Einreise hindern?
Ein Staat kann grundsätzlich frei über die Einreise von Bürgern eines anderen Staates entscheiden. In welcher Form er seine Grenzen schützt und damit seine territoriale Souveränität verteidigt, liegt auch in der Europäischen Union in der Hand des jeweiligen Mitgliedstaats. Wie "robust" ein Grenzregime ist, entscheidet die jeweilige Regierung selbst. Allerdings müssen die Grenzschutzbehörden dabei internationales Recht einhalten. Sie müssen angemessen handeln und die Verhältnismäßigkeit wahren – staatliches Handeln darf nicht gegen Menschenrechte verstoßen.
Nicht alle Menschen, die illegal die Grenzen eines Staates überwunden haben, dürfen in den Nachbarstaat zurückgeführt werden: Dem entgegen stehen unter vor allem das Verbot der Kollektivausweisung und das so genannte Refoulementverbot, Das bereits 1951 in der Genfer Flüchtlingskonvention erwähnte Refoulementverbot (vom französischen refouler - zurückweisen) ist ein im Völkerrecht verankerter weltweit gültiger Grundsatz. Er untersagt es Staaten, Personen in Länder zurückzuführen, in denen ihnen Folter oder andere schwere Menschenrechtsverstöße drohen.
Welche Rechte schützen irregulär Eingereiste?
Die von 47 Staaten unterzeichnete Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) definiert ein Verbot der Kollektivausweisung im IV. Zusatzprotokoll. Trotzdem können sich illegal Eingereiste nicht ohne weiteres auf dieses Verbot berufen, um ihre Rückführung zu verhindern oder die Wiedereinreise zu erzwingen. In einem viel beachteten Urteil hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Februar 2020 Pushbacks nachträglich legalisiert. Die Beschwerdeführer aus Mali und der Elfenbeinküste konnten sich nicht auf das Verbot der Kollektivausweisung berufen, weil sie unter Anwendung von Gewalt und auf irreguläre Weise die Grenze zur spanischen Exklave Mellila in Marokko passiert hätten - obwohl ein legaler offener Grenzübergang vorhanden war.
Während illegal eingereiste Migranten vor Gericht lediglich das Verbot der Kollektivausweisung anführen können, haben Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention juristisch einen weitaus besseren rechtlichen Schutz vor Rückführung durch das Refoulementverbot.
Pushbacks von Asylsuchenden, die sich bereits auf EU-Territorium befinden, verstoßen demnach gegen das Refoulementverbot, wenn ihre individuelle Schutzwürdigkeit nicht geprüft wurde. "In dem Moment, in dem jemand das Staatsgebiet eines EU-Mitgliedsstaates erreicht, hat die betreffende Person einen Anspruch darauf, einen Asylantrag zu stellen, der dann überprüft werden muss", erläutert der Hamburger Seerechts-Experte Alexander Proelß.
Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und führende Völkerrechtler gehen mittlerweile auch davon aus, dass das Refoulementverbot sogar unmittelbar an der Grenze seine Wirkung entfaltet – auch wenn die Person noch nicht EU-Territorium erreicht hat.
Sonderfall Pushbacks auf hoher See
Bei Pushbacks auf dem Meer spielt die Entfernung zur Küste eine wichtige Rolle. Die Hoheit eines Staates endet in der Regel zwölf Seemeilen vor der eigenen Küste. Wenn die Küstenwache – wie in der Vergangenheit mehrfach geschehen – Flüchtlingsboote außerhalb dieser Zone auf hoher See zur Umkehr zwingt, stellt dies wohl keinen Verstoß gegen das Refoulementverbot dar. Gleichwohl sind alle Kapitäne zur Hilfeleistung verpflichtet, sollte ein Boot in Seenot geraten.
Die Einreise in die Europäische Union kann den Hilfesuchenden trotzdem verwehrt werden. "Es gibt keine seevölkerrechtliche Pflicht, dass der danach angelaufene Staat, beispielsweise Italien oder Griechenland, dulden muss, dass die Menschen dort an Land gehen dürfen", erklärt Rechtswissenschaftler Proelß. Ob auf See oder an Land: nur wenige von Pushbacks Betroffene haben am Ende die Kraft und die Mittel, juristisch gegen ihre Zurückweisung vorzugehen.