Warschau: Schuld, Sühne, Scham
1. August 2019Als pünktlich um 17 Uhr Warschau für eine Schweigeminute im Gedenken an den Aufstand vom 1. August 1944 den Atem anhält, ist der deutsche Außenminister schon längst wieder in Berlin. Und durch die Straßen marschiert eine Demonstration polnischer Nationalisten. Kein außergewöhnliches Bild an wichtigen nationalen Feiertagen in Polens Hauptstadt. Die Rechtsradikalen versuchen längst, den Blick auf die Geschichte im Land zu bestimmen. Der polnischen Regierung fällt dann auf die Füße, dass sie im Umgang mit radikalen Rechten bisher eine passive Rolle spielt.
Den Gedenktag auf den Marsch der Rechtsradikalen zu reduzieren, wäre aber die falsche Botschaft an diesem Tag. Denn vor dem Marsch der Nationalisten waren in Warschau Gesten der Verständigung und des Entgegenkommens zu sehen. Sowohl der Besucher aus Deutschland, Außenminister Heiko Maas, als auch die polnische Regierung waren um versöhnliche Töne bemüht - und größtenteils ist das auch gelungen.
Dunkle Geschichte
Die Verbrechen der deutschen Truppen in Warschau seien "kaum in Worte zu fassen", sagte Heiko Maas bei seinem Besuch. Der deutsche Außenminister sprach an diesem symbolischen Tag an einem symbolischen Ort: im Museum des Warschauer Aufstands. Seit 2004 wird dort in einer Ausstellung der Kampf der polnischen Aufständischen gegen die deutschen Besatzer gewürdigt. Bis zu 200.000 Polen verloren damals ihr Leben.
Ein Großteil von ihnen im Stadtteil Wola. Anfang August 1944 hatten dort die Wehrmacht und SS-Truppen 50.000 Menschen ermordet, vor allem bei Massenexekutionen. Am dunklen Granitdenkmal für die Opfer dieses Massakers legte Heiko Maas einen Kranz nieder. "Ich schäme mich dafür, was Polen von Deutschen und in deutschem Namen angetan wurde", sagte er anschließend. "Ich schäme mich auch dafür, dass diese Schuld nach dem Krieg so lange verschwiegen wurde."
Bitte um Vergebung
Tatsächlich blieben die brutalen Verbrechen während der deutschen Besatzung in Deutschland lange unbekannt. Oft wurden sie auch von deutschen Politikern mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto im Jahr 1943 verwechselt. "Mir ist hier deutlich geworden, dass Teile der polnischen Geschichte in Deutschland zu wenig Beachtung finden und teilweise gar nicht bekannt sind, so wie der Warschauer Aufstand", sagte Heiko Maas. Seine Niederschlagung sei "ein bewusster Schlag, der zur Auslöschung all dessen führen sollte, was polnische Identität ausmacht", so der deutsche Außenminister.
Dann wandte sich Maas direkt an die Opfer und ihre Familien: "Ich möchte die Toten ehren und die Familien der Toten und Verletzten, das polnische Volk um Vergebung bitten."
Ein langer Schatten
Mit seinen Worten traf er den richtigen Ton. Gerade zum Jahrestag erinnerten polnische Medien ausführlich daran, dass die Kriegsverbrechen von 1944 ungesühnt blieben. Ein bekanntes Beispiel ist SS-Gruppenführer Heinz Reinefarth, der das Massaker in Wola verantwortete. Nach dem Krieg wurde er von einem Hamburger Gericht aus Mangel an Beweisen freigesprochen und 1951 zum Bürgermeister auf der deutschen Insel Sylt gewählt.
Umso bezeichnender, dass zu den Gedenkfeiern auch der jetzige Sylter Bürgermeister Nikolas Häckel eingeladen wurde. "Es sei unvorstellbar, dass ein solcher Verbrecher im Nachkriegsdeutschland Bürgermeister werden konnte", sagte Häckel in einem Interview. In Polen interessiert man sich sehr dafür, wie man in Deutschland heute über die Verbrechen des 2. Weltkrieges denkt.
Hoffnungszeichen
Dass sich vieles zum Positiven ändere, war auch in diesen Tagen in Warschau zu hören. "Als wir vor 15 Jahren begannen, mit Deutschen über den Aufstand von 1944 zu sprechen, kannte ihn kaum jemand", sagt Jan Ołdakowski, Direktor des Museums des Warschauer Aufstands. Es sei ein Riesenfortschritt, dass sich das mittlerweile spürbar veränderte, meint der Historiker.
Ähnlich äußerte sich der polnische Außenminister. Er erinnerte daran, dass vor Maas auch Bundespräsident Roman Herzog und Bundeskanzler Gerhard Schröder zum Gedenken an den Warschauer Aufstand nach Polen gekommen waren.
Reparationen spalten
Gleichzeitig betonte der polnische Außenminister Jacek Czaputowicz aber unerwartet deutlich die deutsche Schuld. 85 Prozent Warschaus sei mit Absicht zerstört worden und "die dem polnischen Staat und den Polen zugeführten Schäden wurden vom Täter nicht wiedergutgemacht" - sagte er.
Polen habe aus eigener Kraft die zerstörte Hauptstadt wiederaufgebaut. Dies sei ein Beispiel "für ein breiteres Thema, das die Polen daran hindert, die Frage der Reparationen als abgeschlossen zu bewerten", so der polnische Chefdiplomat.
Das Thema spaltet nicht nur Deutsche und Polen, sondern auch die polnische Gesellschaft. Die Nationalkonservativen begrüßen es, wenn hochrangige Politiker die Reparationsfrage gegenüber Deutschland aufwerfen. Die liberalen Kräfte sehen es als Gefahr für das bilaterale Verhältnis.
Tag der Opfer
Eine Jugendgruppe, die beide Minister in Museum des Warschauer Aufstands traf, zeigte sich eher skeptisch. "Ich fand es überhaupt nicht gut, dass unser Außenminister heute von Reparationen sprach", sagte der 17jährige Gymnasialschüler Aleksander Dębski der DW. "Wenn es etwas zu klären gibt, soll man es untereinander klären, aber dieser Tag gehört den Opfer und nicht der Politik", meint er und erntete Kopfnicken bei den Jugendlichen um ihn herum.
Derzeit arbeitet eine parlamentarische Gruppe im Sejm an der Berechnung der polnischen Kriegsschäden. Es ist möglich, dass Polen in absehbarer Zeit mit dem Thema offensiver umgeht.
Denkmal in Berlin?
Trotz dieser Differenzen war man in Warschau bemüht, nach vorne zu schauen. Maas erklärte, dass er eine Initiative deutscher Parlamentarier unterstütze, wonach in Berlin ein Gedenkort für polnische Opfer des Zweiten Weltkrieges entstehen soll. "Das ist lange überfällig", so der Außenminister. Eine solche Gedenkstätte wäre "nicht nur eine Versöhnungsgeste an Polen, sondern auch bedeutend für die Deutschen".
Czaputowicz begrüßte das Vorhaben. Die polnische Seite bemüht sich seit Jahren vergeblich um einen polnischen Erinnerungsort in Berlin. Lange war man in Deutschland der Meinung, dass nicht alle Opfergruppen der Nazi-Herrschaft ein Denkmal in Berlin haben können. Jetzt wächst das Bewusstsein für die Bedeutung einer solchen Geste.