Streit um Scharia
15. September 2017"Wahnsinn" nennt der Münchner Juraprofessor Stephan Lorenz die Empfehlung des Generalanwalts Henrik Saugmandsgaard Øe. Sie versperre selbst in sinnvollen Fällen die Möglichkeit, das sogenannte "Scharia-Recht" anzuerkennen. Es empfehle sich dagegen, jeden Fall einzeln, zu betrachten, meint Lorenz. Der dänische Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof (EuGH), Saugmandsgaard Øe, hatte am Donnerstag seine Einschätzung zum "Scharia-Recht" abgegeben. Das EuGH-Urteil selbst steht noch aus. Doch häufig folgen die Richter den Schlussanträgen.
Im konkreten Fall geht es um ein syrisch-stämmiges Paar, das auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. 1999 hatte es im syrischen Homs geheiratet und nach mehreren Wohnortwechseln in Deutschland gelebt. Vor vier Jahren hatte der Mann vor einem Schariagericht in Syrien über einen Bevollmächtigten die Scheidungsformel "talaq" (zu deutsch: "Ich verstoße dich") aussprechen lassen und sich so von der Frau geschieden. Diese Form der Privatscheidung stehe grundsätzlich nur Männern zu, erklärt Lorenz. Frauen hätten nur in einem sehr engen Rahmen darauf Anspruch.
"Ungerechter Weg, aber Ergebnis gut"
In seinen Schlussanträgen hatte der EuGH-Gutachter eine Empfehlung darüber abgegeben, ob die sogenannte Rom III-Verordnung anwendbar ist. Die Verordnung beschäftigt sich mit der Anerkennung von Privatscheidungen - also Scheidungen, an denen kein staatliches Gericht mitgewirkt hat. Demnach darf ausländisches Recht von europäischen Gerichten nicht angewendet werden, wenn es für Männer und Frauen keinen gleichen Zugang zu Scheidungen gewährt. Das war in diesem Fall so.
An sich sei dies richtig, meint Rechtsexperte Lorenz. Aber selbst diese Ungleichbehandlung der Frau könne in manchen Fällen zu ihrem Vorteil sein. "Nehmen Sie die Ehefrau, die den Ehemann sowieso loswerden will, sich aber leider nicht scheiden lassen kann. Sie ist heilfroh, dass der endlich 'talaq' sagt." Vor einem Schariagericht reicht allein dieses Wort aus, um sich als Ehemann von seiner Frau scheiden zu lassen. Im Endergebnis, sagt Lorenz, wäre das hier in Ordnung. "Es ist zwar ein ungerechter Weg, aber das Ergebnis ist gut für die Frau."
Auf islamischer Basis Menschenrechte verteidigen
Mathias Rohe, Rechtsprofessor an der Universität in Erlangen und Direktor des Zentrums für Islam und Recht in Europa, kann die Sorge vieler Deutscher bei der Anerkennung des Scharia-Rechts verstehen. "Viele verstehen die Scharia sehr eindimensional. Es gibt problematische Bereiche des traditionellen Scharia-Rechts, das Körperstrafen für Kriminelle vorsieht, patriarchalisch ist und keine Gleichberechtigung der Geschlechter oder auch der Religionen kennt. Das macht mit Recht Sorge." Das Problem sei aber, dass die Scharia, also das islamische Recht, sehr viel mehr sei als das. "Sie bietet auch mehr Interpretationsspielraum", sagt Rohe. "Man kann durchaus auch auf islamischer Basis Menschenrechte verteidigen."
Das "Scharia-Recht" gäbe es im Grunde gar nicht, es sei mehr ein Gedankengebäude als etwas ganz Konkretes, so der Rechts- und Islamwissenschaftler. "Wir wenden staatliches Recht an. Das ist in Ägypten, Pakistan, Indonesien oder anderen mehrheitlich muslimischen Staaten geprägt von islamischen Rechtsvorstellungen." Korrekt wäre also "islamisch geprägte staatliche Rechtsordnung". "Scharia-Recht" sei zwar eingängiger, aber auch irreführend.
"Doppelte Strafe"
Dieses Recht wird auch in Deutschland angewendet. "Wir haben Regelungen im Rahmen der EU, teils im nationalen Recht, die sagen, dass eine Eheschließung in Deutschland nach dem Recht der Staatsangehörigkeit der Beteiligten zu schließen ist", sagt Rohe. Wenn also Franzosen auf einem deutschen Standesamt heiraten, werden sie nach französischem Recht verheiratet.
Wenn ausländisches Recht in Deutschland angewendet wird, wird der Vorgang genau geprüft, sagt Lorenz: "Wenn das Ergebnis krass ungerecht ist und gegen Grundrechte verstößt, dann korrigieren wir es. So geschieht das in Deutschland schon seit 100 Jahren." Auch Rechtswissenschaftler Mathias Rohe findet es problematisch, wenn der EuGH pauschal islamische Scheidungen nicht auch in Europa anerkennen würde. Eine Benachteiligung der Frau im Scheidungsrecht lehnen wir generell ab. Wenn sie sich scheiden lassen will, weil sie beispielsweise wieder heiraten möchte und das ab jetzt nicht mehr anerkannt werden würde, "dann strafen wir diese Frau im Grunde doppelt", so Rohe. "Wenn das Ergebnis der generellen Benachteiligung im Einzelfall ein Vorteil für die Betroffenen ist, dann lassen wir ihr diesen Vorteil. In anderen Fällen natürlich nicht."
"Mensch im Mittelpunkt"
Laut Rohe gebe es in Europa derzeit zwei Wege mit dieser Problematik umzugehen: Entweder würden die Menschenrechte in abstrakter Weise hochgehalten, was aber in einzelnen Fällen den Betroffenen schaden könnte. Oder es werde direkt auf die Einzelschicksale eingegangen. "Und das ist der passende Ansatz für eine Rechtsordnung, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt", meint Rohe.
Stephan Lorenz kann dennoch die Empfehlung des EuGH-Generalanwalts nachvollziehen. "Wir sind jetzt im Wahljahr. Europa verliert Vertrauen. Wenn der EuGH jetzt gesagt hätte: 'Das ist anwendbar, wir prüfen es nur konkret im Einzelfall', dann würden die Schlagzeilen lauten: 'EuGH hält Scharia-Scheidung für gültig'. Und dann möchte ich nicht wissen, was Pegida, AfD und Konsorten losgelassen hätten." Das sei seine persönliche Meinung, betont er.