Warum Sandro Wagner eine echte WM-Option ist
17. Februar 2018Wenn es läuft, dann läufts. Am Sonntag kommt Bruno zur Welt, sein drittes Kind. Fünf Tage später geht der Vater wieder arbeiten und trifft. Das ist die Kurzzusammenfassung der Woche von Sandro Wagner. Der Stürmer des FC Bayern München lebt gerade, neudeutsch gesagt, im Flow. Eigentlich im Winter nur als Joker hinter dem überragenden Robert Lewandowski nach München geholt, zeigt Wagner derzeit eindrucksvoll, dass man mindestens das Wort "Edel-" vor seine Funktionsbeschreibung setzen muss.
Im Auswärtsspiel beim VfL Wolfsburg erhält Wagner zum zweiten Mal beim FCB die Chance, von Beginn an zu spielen. Nach seinem Treffer als Einwechselspieler ausgerechnet gegen seinen Ex-Klub TSG 1899 Hoffenheim vor zwei Wochen hat er sich offenbar nachdrücklich für weitere Aufgaben bei Trainer Jupp Heynckes empfohlen. Der wollte den bulligen Angreifer mit 1,94-Gardemaß unbedingt als Back-up für einen gegen Ende der Hinrunde überspielt wirkenden Robert Lewandowski.
"Er ist für mich mit der beste deutsche Stoßstürmer"
Im Spiel gegen die Wölfe sorgt Wagner für mächtig Betrieb im Strafraum, beschäftigt die Abwehr, bindet Gegenspieler, legt geschickt auf seine Mitspieler ab. Doch die mühen sich gegen Wolfsburg ziemlich. Ein frühes Gegentor durch Daniel Didavi (8.) offenbart einige Unstimmigkeiten in der auf acht Positionen veränderten Bayern-Elf. Lange sieht es so aus, als könne der abstiegsbedrohte Klub aus Niedersachsen den großen Bayern tatsächlich drei Punkte klauen. Doch dann kommt Wagners Urgewalt. Nach einem genialen Lauf von Arjen Robben zur Grundlinie und einer anschließenden Flanke steigt Wagner im Zentrum hoch und setzt sich mit all seiner Athletik im Luftkampf gegen Jeffrey Bruma durch - der 1:1-Ausgleich (65.). Es ist bereits der zweite Treffer von Wagner im Bayern-Dress, obwohl er zusammengerechnet nicht mal 180 Minuten auf dem Platz stand.
"Ich habe die Stellenbeschreibung gut gelesen und gewusst, dass ich auch in wenigen Minuten meine Chancen bekomme und meine Tore machen kann", sagte Wagner schon nach seinem Tor gegen Hoffenheim und fügte an: "Ob ich sie dann mache, liegt an mir." Er habe es in der Hand. Eine erstaunliche Einstellung für einen Ersatzspieler, dessen Einsatzzeit vom Gesundheitszustand seines Konkurrenten und vor allem vom Gutdünken des Trainers abhängt. Ebenfalls erstaunlich war seine Entscheidung, ausgerechnet im WM-Jahr von Hoffenheim, wo er einen Stammplatz garantiert hatte, zurück nach München zu wechseln, wo er einst ausgebildet wurde ("Ich komme wieder nach Hause"), wo er sich jetzt aber hinten anstellen muss. Wagner scheut die Herausforderung nicht. Und längst hat er sich auch im Star-Ensemble des FC Bayern viel Respekt erarbeitet: "Sandro ist ein super Typ für uns. Er ist für mich mit der beste deutsche Stoßstürmer. Mit ihm werden wir noch viel Freude haben", sagte Bayern-Torwart Sven Ulreich.
Wagner und Werner - das könnte passen
Das könnte auch für die Nationalmannschaft gelten. Seit seinem Debüt im Team von Joachim Löw im vergangenen Juni erzielte er fünf Tore in sieben Spielen. Eine gute Quote, selbst wenn man bedenkt, dass er drei seiner Treffer gegen Fußball-Zwerg San Marino erzielte. Denn auch das Wie war beeindruckend. Sandro Wagner weiß sich durchzusetzen, erzeugt viel Torgefahr und kann vor allem Bälle halten. Er ist ein so genannter Wandspieler, kann mit dem Rücken zum Tor das Spielgerät abschirmen und weiterverteilen, wenn seine Kollegen nachgerückt sind. Das ist eine Schlüsseleigenschaft, die zuvor in der deutschen Offensive etwas fehlte. Dort buhlen vor der WM in Russland mehrere Kapazitäten um die erfahrungsgemäß wenigen offenen Stürmer-Jobs in Löws Konzept: Timo Werner von RB Leipzig scheint ziemlich gesetzt zu sein, dahinter ist einiges in Bewegung. Wagners Vereinskollege Thomas Müller findet langsam wieder besser in Tritt, André Schürrle meldet sich derzeit nach langer Abstinenz zurück, Kevin Volland will den Bundestrainer unbedingt von sich überzeugen, Lars Stindl versucht es mit dem spielerischen Element und Sandro Wagner eben mit seiner Durchschlagskraft. Serge Gnabry und Mario Gomez sind klare Außenseiter in diesem Rennen, ihnen fehlt es vor allem am Wesentlichen: an Toren.
Die kann Wagner derzeit vorweisen. Aber durchaus noch mehr als das: "Durch seine körperliche Kraft, seinen Einsatz und Dynamik ist er vor allem bei Flanken sehr gefährlich", lobte Joachim Löw Wagner bereits bei dessen DFB-Einstand. Wagner steht zugleich für einen Vorzeichenwechsel im Löwschen System. Jahrelang war es geprägt von der Philosophie der kollektiven Offensive. Der Stürmer wurde abgeschafft, der Terminus "falsche Neun" wurde eingeführt und in der Kader-Übersicht wurden die Bereiche Mittelfeld und Angriff einfach zusammengefasst. Nun hat der Bundestrainer wieder "echte Neuner" zur Verfügung. Und er ist offenbar gewillt, sie auch einzusetzen. Denkbar scheint inzwischen sogar wieder ein schon fast vergessenes Konzept: ein Spiel mit zwei "echten" Stürmern. Wagners Wucht mit Werners Wille - das könnte am Ende vielleicht sogar zu einem fünften W führen: dem WM-Titel.