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Warum über den Gulag so lange geschwiegen wurde

Birgit Goertz22. Februar 2013

In der DDR war der Gulag ein Tabu, auch in der Bundesrepublik wurden die Lager nicht thematisiert. Warum das so war, darüber spricht die DW mit der Historikerin Julia Landau.

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Holzbretterzaun und Stcheldraht am ehemaligen Straflager Perm 36, das bis 1989 von der Sowjetunion als Gefängnis fuer Dissidenten und andere Häftlinge benutzt wurde, aufgenommen am 24.07.2009. Die Anlage wird heute als GULAG-Museum benutzt. (Foto: Matthias Tödt dpa/lnw)
Bild: picture-alliance/dpa

Julia Landau ist promovierte Historikerin und forscht an der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora über die sowjetischen Straf- und Arbeitslager. Sie hat mitgewirkt an der Ausstellung "Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929–1956", die im vergangenen Jahr erstmals in Deutschland das sowjetische Lagersystems darstellte (wir berichteten).

DW: Mit der Gulag-Ausstellung widmete man sich hierzulande erstmals dem Thema in einem größeren Rahmen. Warum wurde dieses Thema bislang so randständig behandelt?

Julia Landau: Ich denke, das ist wahrscheinlich immer noch eine Folge der friedlichen Revolution. Im Grunde ist das Thema bekannt. Es sind auch große Quellensammmlungen seit der Zeit der Perestrojka zugänglich. Zuvor war der Blick auf die Geschichte verstellt: im Westen durch den Antikommunismus und im Osten durch die Einreihung der Geschichte in das Fortschrittsnarrativ, wo man auf die Opfer keine Rücksicht nahm. Es gibt neue Forschungen zum Thema, die in internationaler Kooperation entstanden sind. Der Gulag ist kein Tabu mehr, aber ein eher randständiges Thema.

Doch warum wird das Thema erst 20 Jahre nach der friedlichen Revoluion behandelt?

Es ist ein eher sperriges Thema und nicht einfach, wissenschaftlich zu erforschen. Man muss Archivebestände konsultieren, man braucht die entsprechenden Sprachkentnisse. Es dauert seine Zeit, bis die Wissenschaft aufholt. Aber aus Erinnerungen und Erzählungen ist das Thema bekannt.

Blick auf ein Straflager in der autonomen sowjetischen Republik Jakutien, aufgenommen im Febraur 1993
Blick auf ein Straflager in der autonomen sowjetischen Republik Jakutien, aufgenommen im Febraur 1993Bild: picture-alliance/dpa

Läßt sich beziffern, wieviele Deutsche im Gulag einsaßen?

Mit den Zahlen ist es schwierig: Es gab verschiedene Personengruppen, die als Deutsche in den Lagern saßen und dort als Deutsche geführt wurden: zum Beispiel die Sowjetbürger mit ehemals deutscher Herkunft wie die Wolgadeutschen, dann gab es Sowjetbürger mit deutscher Nationalität, oder die so genannten Reichsdeutschen. Die Volkszählung von 1939 besagt, dass ein bis anderthalb Prozent der Häftlinge des Gulag Deutsche waren - von insgesamt 1,5 Millionen Häftlingen.

Die Verfolgung der Wolgadeutschen hingegen begann eher später, mit dem Krieg auf dem Territorium der Sowjetunion 1941, als infolge des Krieges viele Sowjetbürger deutscher Nationalität verhaftet worden. Auch nach dem Krieg wurden in der sowjetisch besetzten Zone Menschen verhaftet. Die Zahl der deutschen Gulag-Inhaftierten stieg nach dem Krieg porportional an. Insgesamt gab es damals 2,5 Millionen Häftlinge.

Wie muss man sich ein Lager des Gulag vorstellen - vor allem im Gegensatz zu einem Konzentrationslager?

Die große Menge der Inhaftierten im Gulag waren russische Sowjetbürger, damit spiegelt der Gulag die demografische Zusammensetzung der sowjetischen Bevölkerung wieder. Der Gulag war ein Repressionsinstrument, dass sich in erster Linie gegen die eigene Bevölkerung richtete, während die Konzentrationslager der rassistischen Ideologie der Nationalsozialisten entsprangen. Die Zahl der KZ-Häftlinge explodierte mit dem Ausbruch des Krieges. Nun stellten die Häftlinge aus anderen europäischen Ländern, insbesondere den von Deutschland besetzten Ländern die große Mehrzahl. Die NS-Lager hatten von vornherein das Ziel, die Häfltinge zu vernichten. Sie arbeiten zu lassen, war nur eine Episode, aber nicht das Ziel.

Blick auf einen Wachturm und den Zaun eines verfallenen Straflagers, aufgenommen im Dezember 1989
Blick auf einen Wachturm und den Zaun eines verfallenen Straflagers, aufgenommen im Dezember 1989Bild: picture-alliance/dpa

Die Lager des Gulag dienten in erster Linie der Industrialisierung des Landes. Der Tod der Häftlinge war eine hingenommene Folgeerscheinung. Das macht es keineswegs besser: Die Erfahrungen der Häftlinge sind gleichermaßen furchtbar. Aber dennoch muss man auf Unterschiede hinweisen.

Welche Funktion wurde dem Gulag innerhalb des stalinistischen Terrorsystems zugeschrieben?

Es kommen mehrere Funktionen zusammen: Man wollte mithilfe der Häftlinge eine überall einsetzbare Ressource bilden, das große Land erschließen, industrialisieren. Häftlinge bauten Straßen, Eisenbahntrassen, Kanäle, Häuser. Es ging also um Industrialisierung und die politische Repression durch Verhaftung von vermeintlichen Volksfeinden. In Folge des Krieges ging es dann auch um die Verhaftung von vermeintlichen Kollaborateuren.

Auch in der frühen sowjetische Besatzungszone gab es sogenannte Speziallager. Das waren Lager, in denen kein Arbeitszwang herrschte, was auch sehr belastend für die Häftlinge war, weil sie total untätig waren. Die Lager bestanden von 1945 bis zur Gründung der DDR, bis etwa 1949/50. Rund 120.000 Menschen waren dort inhaftiert.

Der sowjetische Diktator Josef Stalin, Pfeife rauchend, am Schreibtisch sitzend (Foto: Illus-SNB 5.12.49 4636-49)
Der sowjetische Diktator Josef StalinBild: Bundesarchiv, Bild 183-R80329 / CC-BY-SA

Wie präsent war das Thema Gulag in der DDR?

Viele wussten davon durch Gerüchte oder Familienerlebnisse. Rückkehrer durften aber von ihren Erfahrungen in Speziallagern und Gulag nicht berichten. Der Staat machte ihnen Angebote sich zu intergrieren. Aber sie verstanden schon, dass es die Angebote nur um den Preis gab, nicht laut über die Erfahrungen zu sprechen. Es ist auch ein psychologisches Phänomen: Wenn man Erfahrungen gemacht hat, die so außerhalb des üblichen Lebens stehen, dann versucht man, sie zu verdängen. Auch die Angehörigen wollen an ein solches Trauma nicht rühren. Zudem war man in der DDR anhängig von der Sowjetunion. Dort durfte man auch nicht über den Gulag sprechen. Eine Tauwetterperiode gab es zwar, und es gab auch Lagererinnerungen. Aber es war kein offizielles Thema. Das ist es bis heute nicht - nicht weil es verboten wäre, sondern weil es keinen interessiert.

Doch warum gingen die meisten Rückkehrer nach ihrer Rehabilitation in die DDR und nicht in die Bundesrepublik?

Die meisten kommunistischen gesinnten Rückkehrer sind in die DDR gegangen, weil ihnen angeboten worden war, den Staat mitzugestalten. Viele von ihnen, das besagen die Erinnerungen, waren immer noch von der kommunistischen Idee überzeugt. Das trifft nicht auf diejenigen zu, die erst nach dem Krieg in der Sowjetischen Besatzungszone als politische Gegner verhaftet worden sind, die erst nach dem Krieg in die Sowjetunion kamen. Diese gingen später in den Westen.

Diejenigen deutschen Kommunisten, die in den 1930er Jahren vor den Nationalsozialisten flohen und sich im Gulag wiederfangen, hofften also auf eine zweite Chance: Sie hofften, diesmal einen wahrhaft kommunistischen Staat aufzubauen. Kann man das so sagen?

Ja, man darf nicht vergessen: Sie hatten gegen den Nationalsozialismus gekämpt. Sie hatten gesehen, dass die Sowjetunion mit den USA über den Nationalsozialimus triumphierte. Das rechtfertigte auch den sowjetischen Weg - trotz aller Opfer, auch wenn das im nachhinien absurd klingt. All das trug sicher zu dem Wunsch bei, den neuen sozialistischen Staat aufzubauen und die Lagererfahrung zu verdrängen.