Nach Corona: Von der Spanischen Grippe lernen?
26. April 2020Das erste Mal hörte ich durch meine Oma von der Spanischen Grippe. Ihre Mutter, meine Urgroßmutter, erkrankte 1918, als meine Oma vier Jahre alt war. Sie überlebte, behielt aber eine schwere Herzkrankheit zurück. Trotzdem bekam sie noch zwei Kinder. Bis zu ihrem Tod blieb sie bettlägerig, und meine Oma kümmerte sich jahrelang um den Vater und die jüngeren Geschwister. Die Spanische Grippe prägte ihr Leben. So, wie das unzähliger Menschen auf der ganzen Welt.
Meine Familie wurde von der Pandemie nur gestreift, nur deshalb kann ich das hier schreiben. Weltweit aber starben in den drei Grippewellen 1918/1919 wohl zwischen 50 und 100 Millionen Menschen, schätzen Experten.
Wie die Spanische Grippe die Welt veränderte
Ein Vergleich beider Krankheiten hinkt natürlich: Was die Menschen damals tötete, wusste man nicht (Viren als Krankheitserreger wurden erst in den 1930er Jahren nachgewiesen). Das Genom des neuen Sars-Cov-2-Virus dagegen war schon nach kurzer Zeit entschlüsselt, an spezifischen Medikamenten und Impfstoffen wird intensiv geforscht. Medizinisch sind wir heute viel weiter als damals.
Und doch gibt es Gemeinsamkeiten: Wie damals stürzt auch heute eine Krankheit die Weltgemeinschaft in eine tiefgreifende Krise. Auch, wenn wir noch ganz am Anfang der Corona-Pandemie stehen: Was könnten wir aus der Geschichte der Spanischen Grippe für unsere Zukunft "nach Corona" lernen?
Hinweise gibt ein Buch der britischen Wissenschaftsjournalistin Laura Spinney, das im Jahr 2018 erschienen ist: "1918 – Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte".
Als ich es vor zwei Jahren las, hätte ich mir nie im Leben vorstellen können, dass ich die darin geschilderten klassischen Maßnahmen der Seuchenbekämpfung so bald selbst erleben würde: Kontaktsperren und Veranstaltungsverbote, Grenzschließungen und Quarantänevorschriften. Schutzmasken-Pflicht.
Wer ist schuld? Ängste schüren Fremdenhass
Selbst vor ein paar Monaten erschien mir das noch unwirklich – als uns die ersten Nachrichten über Todesopfer in China erreichten. Doch schon bevor die Infektionswelle massiv nach Europa schwappte, verströmte das Virus sein Gift: Unter dem Hashtag #ichbinkeinvirus twitterten asiatisch aussehende Menschen, wie sie rassistisch beleidigt und angefeindet wurden.
Und das Nachrichtenmagazin "Spiegel" veröffentlichte Anfang Februar ein reißerisches und umstrittenes Titelbild: “Corona-Virus: Made in China“. Der gelbe Schriftzug auf dem Foto eines Menschen in roter Schutzkleidung weckt Assoziationen an den abwertenden Begriff der "gelben Gefahr", der seit dem 19. Jahrhundert immer wieder verwendet wurde, um Ressentiments gegen ostasiatische Völker, insbesondere China, zu schüren.
Umgekehrt ist das leider inzwischen genauso: Aus China, das nach eigenen Angaben nur noch wenige inländische Ansteckungsfälle zählt, berichten nun Ausländer über fremdenfeindliche Erlebnisse – jetzt werden sie als potentielle Virenträger gefürchtet.
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Eine spanische, deutsche oder gar brasilianische Krankheit?
Auch beim Ausbruch der Spanischen Grippe kamen die Ängste der Menschen in Schuldzuweisungen zum Ausdruck. Zum Beispiel in den Namen, die Zeitgenossen der neuen Krankheit gaben: In Brasilien hieß sie "Deutsche Grippe", im Senegal "Brasilianische Grippe" und in Polen wurde sie als "Bolschewikenkrankheit" bezeichnet.
Besonders unfair war das den Spaniern gegenüber: Denn von dort stammte die "Spanische Grippe" nämlich sicher nicht, wie Laura Spinney belegt (sondern wahrscheinlich entweder aus Frankreich, China oder den USA). In Spanien wurde nur zuerst über sie geschrieben. Weil das Land im Ersten Weltkrieg neutral war, berichteten Zeitungen im Mai 1918 ohne Militärzensur über den Krankheitsausbruch in Madrid. Obwohl die Grippe in den Schützengräben der Kriegsparteien in Belgien und Frankreich schon seit Wochen grassierte, blieb der Name "Spanische Grippe" hängen.
Corona-Krise: Wenn die "Zukunft ihre Richtung ändert"
Krisen befördern nicht nur Ängste und Ressentiments – sie bringen auch positive Impulse und kreative Lösungen. Der Zukunftsforscher Matthias Horx sieht uns an einem historischen Moment, in dem die "Zukunft ihre Richtung ändert". Wie diese Zukunft aussehen könnte, verdeutlicht er mit einem Gedankenspiel: der Re-Gnose. Im Gegensatz zur Prognose blick er dabei er von der Zukunft aus zurück ins Jetzt. Dabei erkennt er nicht nur den offensichtlichen und täglich spürbaren Modernisierungsschub durch das praktische Einüben digitaler Techniken, wie Tele- und Videokonferenzen, Internet-Teaching oder auch mobiles Arbeiten (auch dieser Text ist im Homeoffice entstanden). Sondern auch, wie unsere "human-soziale Intelligenz" geholfen haben wird, die Krise zu meistern.
Die erzwungene körperliche Distanz wird eine neue Nähe gefördert haben, meint er. Stimmt: Mit Kolleginnen und Kollegen, aber auch alten Freunden kommuniziere ich schon jetzt per Videochat oder telefonisch intensiver als früher und vor dem Einkauf fragen wir den älteren Nachbarn - natürlich mit Sicherheitsabstand über den Gartenzaun - was wir ihm denn mitbringen sollen.
Wird dieses neue, freundliche Miteinander bleiben? Weil wir die Krise gemeinsam "trotz radikaler Einschränkungen solidarisch und konstruktiv" überwinden konnten, wie Horx "re-gnostiziert"?
Modernisierungsschübe und neue Machtverhältnisse
Auch die Weltgemeinschaft kann solch massive Krisen nur gemeinsam meistern, in enger internationaler Zusammenarbeit. Diese Erkenntnis führte nach der Spanischen Grippe zur Gründung der Gesundheitsorganisation des Völkerbundes, eines Vorläufers der WHO. Vielen Staaten wurde zudem klar, dass sie für die öffentliche Gesundheitsfürsorge verantwortlich sind und nicht allein Wohlfahrtsverbände, Kirchen und private Gesundheitseinrichtungen, wie zuvor.
Auch "nach Corona" werden Gesundheitssysteme weltweit auf dem Prüfstand stehen.
Zudem verschoben sich durch die Erfahrungen der Grippe vielerorts auch gesellschaftliche und politische Machtverhältnisse. Zum Beispiel in Indien. Nicht die britischen Kolonialherren, sondern die indische Bevölkerung starb in Massen. Die Ungerechtigkeiten bei der medizinischen Versorgung stärkten den Widerstand, und Mahatma Gandhi, der selbst an der Grippe erkrankt war, wurde 1919 zum Führer der Unabhängigkeitsbewegung.
Gewaltiger Riss in der Kunst der 1920er Jahre
Sichtbar wurden die Folgen der Spanischen Grippe auch in Kunst und Kultur. Eines der erschütterndsten Zeugnisse hinterließ der Maler Egon Schiele: Sein Gemälde "Die Familie" zeigt ihn, seine Frau Edith und das gemeinsame Kind. Ein Kind, das nie geboren wurde. Denn die schwangere Edith starb an der Grippe - so wie der Maler selbst, drei Tage später. Das Bild malte er in der Zwischenzeit. Nach solch traumatischen Erlebnissen von Krieg und Krankheit habe es in den Zwanziger Jahren in der Kunst einen Riss gegeben, "so gewaltsam wie die Teilung des Roten Meeres in der Bibel", wie Laura Spinney formuliert. Nur zwei Beispiele: In der Musik entstand mit Arnold Schönbergs Zwölftonmusik ein komplett neues musikalisches System, und Architekten trennten sich von romantischer Jugendstil-Ornamentik und entwarfen funktionale Bauhaus-Gebäude.
Auch heute setzen sich Künstlerinnen und Künstler intensiv mit dem Thema auseinander - und Museen sammeln schon jetzt Fotos und Alltagsgegenstände, um den derzeitigen historischen Ausnahmezustand für spätere Generationen zu dokumentieren.
Auch Covid-19 ist eine Zoonose: Ein persönlicher Entschluss
Wie sehr sich die Welt "nach Corona" verändern wird, wissen wir noch nicht. Trotzdem können wir schon jetzt dazu beitragen, sie besser zu machen. Das möchte ich jedenfalls versuchen. Denn es gibt noch eine weitere Gemeinsamkeit: Beide Krankheiten sind Zoonosen. Also Krankheiten, die durch in Tieren beheimatete Viren verursacht werden, welche irgendwie die biologische Barriere zum Menschen übersprungen haben. Wobei sie zu tödlichen Krankheiten mutiert sind.
"Haben wir Menschen durch die Domestizierung wilder Tiere tierische Reservoire für Grippeviren aktiv zu uns geholt und sogar neue geschaffen?", zitiert Laura Spinney in ihrem Buch über die Spanische Grippe eine wissenschaftliche These. Ich halte das für sehr wahrscheinlich. Denn die Spanische Grippe und das neue Coronavirus sind längst nicht die einzigen Beispiele. Auch das HIV-Virus, das SARS-Virus von 2002 oder das Influenza-Virus der so genannten "Schweinegrippe" von 2009 stammen ursprünglich aus dem Tierreich. Was also, wenn wir keine Tiere mehr essen würden?
Ich habe das so für mich entschieden. Nicht nur, aber auch wegen Corona. Vielleicht trage ich damit dazu bei, den Viren ein Schnippchen zu schlagen? Das wäre mein ganz persönlicher Beitrag für eine Welt "nach Corona".