Die Grünen wollen mit mehr Klimaschutz an die Macht
19. April 2021Nun steht es fest: Die Grünen gehen mit Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin in den Wahlkampf zur Bundestagswahl im September. Das erste Mal in ihrer Geschichte sind die Grünen ganz und gar darauf eingerichtet, in einer Bundesregierung zentrale politische Macht in Deutschland zu übernehmen. Bei ihrer ersten Regierungsbeteiligung, zwischen 1998 und 2005 an der Seite der SPD, stolperten sie eher in eine zuvor kaum erwartete Koalition, mit gerade einmal 6,7 Prozent bei der Bundestagswahl im Herbst 1998. Jetzt, 23 Jahre später, ist alles anders. Die Partei liegt stabil bei über 20 Prozent in den Umfragen.
Koalitionen mit fast allen anderen Parteien in den Ländern
In den letzten Jahren haben die Grünen zudem alle Barrieren zu den anderen Parteien, mit Ausnahme der Rechtspopulisten von der "Alternative für Deutschland" (AfD), abgebaut. In den Ländern haben sie in Koalitionen mit allen anderen Parteien zusammengearbeitet, nur mit der bayrischen CSU nicht. Längst ist die Umweltschutzpartei nicht mehr festgelegt auf Koalitionen mit den Sozialdemokraten, was lange Jahre der Fall war. So flexibel wie jetzt waren sie noch nie. Manche Kritiker sagen, so inhaltlich beliebig auch noch nie.
Die Kultur des Dauerstreits ist Vergangenheit
Aber wer frühere Parteitage der Grünen besucht und durchlitten hat, sich dabei wundern musste über stundenlange hitzige Debatten und chaotische Auseinandersetzungen, reibt sich jetzt die Augen. Die Grünen sind geeint wie nie, stehen geschlossen hinter ihrer Parteispitze, meiden alle hässlichen Angriffe auf politische Gegner. Sprechen von der Verfassung, die es zu verteidigen gelte, so staatstragend klingt das, dass es immer noch ungewohnt ist. Fokussiert und konzentriert machen sie deutlich: Es soll nichts mehr schiefgehen auf dem Weg an die Macht
Klimaschutz bleibt zentral
Inhaltlich gilt für die Grünen auch über 40 Jahre nach ihrer Gründung: Der Umweltschutz, vor allem der Kampf gegen den Klimawandel, steht im Zentrum. In ihrem Wahlprogramm formulieren die Grünen, was ihre Anhänger von ihnen erwarten: 70 Prozent der Treibhausgase will die Partei einsparen bis 2030, eine riesige Ziel-Erweiterung gegenüber dem Plan der heutigen Regierung, die 55 Prozent weniger schaffen will. Dafür wird es nötig sein, die Energiewende zu beschleunigen, für einen raschen Ausbau der erneuerbaren Energien zu sorgen und mehr Elektroautos auf die Straßen bringen. Das alles wollen die anderen Parteien auch, aber ihren hohen Standard werden die Grünen mühsam durchsetzen müssen. Hier geht es um ihren Markenkern.
Außenpolitische Kontinuität
Außenpolitisch wird es mit den Grünen viel Kontinuität geben. Sie setzen wie die meisten anderen Parteien auch auf ein starkes Europa, oder besser darauf, die EU wieder stark zu machen, sie setzen auf eine Wiederbelebung des transatlantischen Verhältnisses. "Raus aus der Nato", das mögen noch vereinzelte Gruppen innerhalb der Partei denken, die Führung und weite Teile der Partei sehen das anders. Gegenüber Russland und China sind von den Grünen allerdings eher kritische Ansätze zu erwarten, die umstrittene Ostsee-Pipeline Nord-Stream 2 etwa, von der jetzigen Regierung verteidigt, lehnen sie ab. Immer wieder haben sie Oppositionsgruppen in China oder Russland, auch in Belarus, offen unterstützt. Außenpolitisch sind also klarere Töne etwa gegenüber China zu erwarten, was etwa die Behandlung der Uiguren angeht.
Für einen starken, investierenden Staat
Wirtschafts- und sozialpolitisch setzen die Grünen eher auf eine starken Staat und mehr Ausgaben. In ihrem Wahlprogramm, das ein Parteitag im Juni noch endgültig beschließen muss, wimmelt es von teuren Programmen, für Berufsumsteiger etwa, für mehr Digitalisierung überall in Deutschland, für nachhaltige Investitionen. Wie sich das nach dem Ende der Pandemie mit den leeren Staatskassen verträgt, bleibt abzuwarten. Und auch, wie das etwa an der Seite von CDU und CSU umgesetzt werden könnte, die schon angekündigt haben, möglichst schnell zur Politik der "Schwarzen Null", also der ausgeglichenen Haushalte, zurückkehren zu wollen. Immer wieder haben die Grünen deshalb auch Vorstöße gemacht für eine höhere Besteuerung von Besserverdienenden, was vor allem in einer Koalition mit CDU und CSU kaum umsetzbar sein dürfte.
Gegen das weitere Auseinanderdriften der Gesellschaft
Gesellschaftspolitisch setzen die Grünen auf den Kampf gegen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus, auf Gender-Gerechtigkeit. Und sie wollen mithelfen, die Polarisierung im Land zurückzudrängen. Das wird schwierig, denn vor allem von rechts gelten gerade viele Grünen-Politiker als erste Hassobjekte, etwa die Vizepräsidentin des Bundestages, Claudia Roth.
Ein solider Unterbau etwa in der Fraktion
Helfen kann der Führung der Grünen, die über eher weniger Administrations-Erfahrung verfügt, der solide Unterbau etwa in der Bundestagsfraktion und in den Ländern. Außenpolitiker wie Omid Nouripour, Europa-Expertinnen wie Franziska Brantner, erfahrene Parlamentarierinnen wie die Geschäftsführerin Britta Haßelmann sind mit allen Wassern gewaschen und nervenstark. Ratschläge vom alten Urgestein Joschka Fischer, zu dem viele Grüne noch lange Jahre nach seinem politischen Karriereende pilgerten, um sich Anregungen zu holen, haben die heutigen grünen Spitzenleute nicht mehr nötig.
Und dann: Das Ende der Kernenergie erleben.
Wenn es klappt mit der Regierungsbeteiligung, als Juniorpartner oder gar im Kanzleramt, dann wird sich 2022 ein wichtiger Kreis für die Grünen schließen. Dann werden sie an der Macht miterleben, wie das letzte Kernkraftwerk in Deutschland abgeschaltet wird und sie damit einen Kampf werden gewonnen haben, der zum Gründungsmythos der Partei gehörte. Gut möglich aber auch, dass die heutigen Grünen das pragmatisch, wie sie sind, dann einfach nur zur Kenntnis nehmen.