Weihnachtsmarkt-Attentat: Tödliche Versäumnisse
18. Dezember 2020Elf Menschen hat der Islamist Anis Amri in den Tod gerissen, als er am 19. Dezember 2016 mit einem gestohlenen Lastwagen in einen Weihnachtsmarkt in der Berliner City raste. Zuvor hatte der als Flüchtling registrierte Tunesier den Fahrer des LKW ermordet. Über 60 Besucher des Weihnachtsmarktes wurden schwer verletzt. Es war der folgenschwerste islamistische Terroranschlag in Deutschland – und er sei "vermeidbar" gewesen. Das sagte der damalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Hans-Georg Maaßen, Anfang Oktober.
Der inzwischen abgelöste Chef des deutschen Inlandsgeheimdienstes war seinerzeit als Zeuge im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss geladen. Das Gremium versucht seit März 2018 zu ergründen, wer für die Fehler im Umgang mit Amri verantwortlich ist. Denn dass er mehr als ein kleiner Drogendealer und abgelehnter Asylbewerber war, wussten die Sicherheitsbehörden schon länger. Trotzdem konnte der Anschlag nicht verhindert werden.
"Er hätte nicht stattfinden müssen, und das ist für mich die besondere Tragik", räumte Ex-BfV-Chef Maaßen vier Jahre danach ein. Dass er persönlich Fehler gemacht hat oder die von ihm bis Oktober 2018 geführte Behörde, konnte oder wollte er im Untersuchungsausschuss nicht bestätigen. Auch deshalb sagt der Bundestagsabgeordnete Benjamin Strasser auf DW-Anfrage: "Fehler gab es immer nur bei den anderen, aber selten in der eigenen Behörde." Der Freidemokrat (FDP) meint, es wäre an der Zeit, "endlich einmal klar die Verantwortung für das Behördenversagen im Fall Amri einzuräumen".
BKA und BND geben Fehler zu
Ansatzweise ist das nach dem nicht nur von Strasser kritisierten Auftritt Maaßens geschehen. Nach ihm wurden auch die Präsidenten des für die Auslandsaufklärung zuständigen Bundesnachrichtendienstes (BND) und des Bundeskriminalamtes (BKA) als Zeugen befragt. Dabei gab BKA-Chef Holger Münch offen zu, dass es beim Fall Amri erhebliche Mängel beim Informationsaustausch zwischen Sicherheitsbehörden in Deutschland, aber auch auf europäischer Ebene gegeben habe. Ein Befund, den BND-Chef Bruno Kahl bestätigte.
So hätten sein Nachrichtendienst und das BKA im September und Oktober 2016, also wenige Monate vor dem Attentat, Anfragen eines marokkanischen Geheimdienstes erhalten, in denen von Amris islamistischen Aktivitäten die Rede gewesen sei. Diese Information nicht sofort an den Verfassungsschutz weitergeleitet zu haben, hält Kahl im Rückblick für einen Fehler. Es bestehe Anlass, das eigene Handeln "selbstkritisch zu überprüfen". Damit kam er – zumindest rhetorisch – der Erwartung des Untersuchungsausschusses nach.
Geheimdienst-Experte: Lage war "hochgefährlich"
Dennoch sagt der FDP-Parlamentarier Strasser: "Vier Jahre nach dem Anschlag sind die wesentlichen Lehren noch immer nicht gezogen worden." Der Bundesregierung fehle dazu offensichtlich der politische Wille. So weit geht der sozialdemokratische Obmann im Gremium, Fritz Felgentreu, nicht. Aber auch der SPD-Mann wirft den beteiligten Sicherheitsbehörden gravierende Versäumnisse vor. "Eine Verkettung der Fehler hat es Amri ermöglicht, irgendwie durch die Maschen zu schlüpfen."
Dabei war der spätere Attentäter Amri eindeutig auf dem Radar des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums (GTAZ) in Berlin. Dort tauschen alle zentralen Sicherheitsbehörden und die der 16 Bundesländer ihre Erkenntnisse aus. Amri war 2016 mehrmals Thema. Die Lage sei damals "hochgefährlich" gewesen, sagte der ehemalige Geheimdienst-Koordinator des Kanzleramtes, Klaus-Dieter Fritsche, als Zeuge im Untersuchungsausschuss. Man habe Kenntnis gehabt von Aufrufen des sogenannten Islamischen Staates (IS), in Europa Anschläge auf "Feierlichkeiten zum Jahresende" zu begehen.
Parallelen zum Attentat in Nizza
Dieser Gefahr war sich das Innenministerium durchaus bewusst. Ein für internationalen Terrorismus und Extremismus zuständiger Experte erwähnte in diesem Zusammenhang auch ausdrücklich Weihnachtsmärkte, die als christliche Symbole für islamistische Terroristen "besonders attraktive Ziele" darstellten. Trotzdem wurden zumindest am späteren Tatort keine Schutzmaßnahmen getroffen, die es Amri zumindest erschwert hätten, mit dem Lastwagen ungehindert in den Weihnachtsmarkt zu rasen.
Dabei waren schon ein halbes Jahr vor dem Berliner Attentat in Nizza nach dem gleichen Muster noch viel mehr Toten zu beklagen gewesen. Über 80 Menschen kamen im Juli 2016 ums Leben, als ein wie Amri aus Tunesien stammender Islamist seinen Lastwagen am französischen Nationalfeiertag an der Uferpromenade in eine Menschenmenge steuerte. Danach habe man in Deutschland schon darüber nachgedacht, was man zur Verhinderung solcher Anschläge "Sinnvolles" tun könne, sagte der Terror-Experte aus dem Innenministerium vor dem Untersuchungsausschuss.
"Staatsschutz hatte zu wenig Personal"
Betonpoller waren demnach neben anderen Schutzmaßnahmen im Gespräch. Heute gibt es sie überall in Deutschland, etwa in belebten Fußgängerzonen. Auch der Breitscheidplatz, wo Amri sein Attentat verübte, ist nun von solchen massiven Sperren umgeben. Und welche Konsequenzen wurden politisch gezogen? Berlins Innensenator Andreas Geisel hatte schon kurz nach dem Anschlag einen Sonderermittler eingesetzt, der im Herbst 2017 seinen Abschlussbericht vorlegte. Fazit: Die Sicherheitsbehörden haben komplett versagt.
Eine Woche vor Weihnachten ist der Sozialdemokrat (SPD) Geisel Zeuge im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Der will unter anderem wissen, warum das Landeskriminalamt (LKA) die Überwachung des späteren Attentäters Amri wenige Wochen vor dem Anschlag beendete. Geisels Antwort: "Das war ein ganz klarer Fehler." Der Staatsschutz habe zu wenig Personal gehabt. Das sei inzwischen anders. Der Innensenator verweist auf über 1.000 neue Stellen bei der Polizei. Er sagt aber auch: "Es gibt keine absolute Sicherheit."
Thomas de Maizière trägt die "volle Verantwortung"
Als letzter Zeuge wird der 2016 amtierende deutsche Innenminister Thomas de Maizière befragt. "Mir kamen die Bilder von Nizza in den Kopf", sagt er zu Beginn. Er habe "unendliche Trauer" empfunden, "große Wut". Und sich die Frage gestellt, ob man das Attentat hätte verhindern können? Darauf gebe es keine überzeugende Antwort – nur das Bemühen, aus Fehlern zu lernen. Der Christdemokrat lässt aber auch keinen Zweifel daran, dass er als damals verantwortlicher Minister "für alles die volle Verantwortung" trage.
Das Attentat habe Schwachstellen offenbart, sagt de Maizière. Er stelle sich aber auch hinter die Sicherheitsbehörden. Wie nahe ihm das Attentat auch vier Jahre später noch geht, ist zu spüren, als er ein Gespräch mit Opfer-Angehörigen auf Einladung des damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck erwähnt: "Es gehörte zu den bewegendsten Gesprächen meiner Amtszeit."