Welcome to India!
8. Dezember 2009Sonntag, 6.12.2009: Welcome to India
Der Tag war lang. Kurz vor Mitternacht. Hm, na gut, deutscher Zeit. In Nagpur ist es jetzt etwa halb fünf Uhr früh. Aber erst musste ja der Radio-Beitrag im Büro geschrieben und oben in meiner Hochzeits-Suite aufgenommen werden. Mit Mikrofon, Laptop und der Bettdecke über dem Kopf, damit es nicht ganz so hallt. Im Büro im Erdgeschoss waren die Grillen einfach zu laut. Mann, die haben Ausdauer.
Die Honey-Moon-Suite
Die Hochzeits-Suite, frisch renoviert, das sind zwei Zimmer auf dem Dach, mit Blick auf die Terrasse und die Warmwasseranlage. Sonnenbetrieben. Ein Bett, ein Schrank, eine Dusche, ein WC. Alles einfach und sauber, aber, erste Überraschung: Kein Moskitonetz. Braucht man in Nagpur nicht. Hier summt kaum etwas um mich herum. Nicht einmal der Verkehr brummt um diese Zeit, obwohl das Rainbow-Gästehaus, in dem ich wohne, mitten in der Stadt steht.
Einmal in die Disko oder 66mal busfahren
Am Samstag nach Mitternacht, als ich mit zwei anderen aus dem Gästehaus von einem Glas Bier zurückspazierte, waren die meisten Straßen leer, bis auf einige Motorradfahrer und streunende Hunde. Auf dem „Fly Over“, der Stadtautobahn auf Beton-Stelzen, sieht das sicher ein bisschen anders aus. Auch vor einem der angesagten Clubs hier stauten sich die Autos der jungen Inder, die sich den Besuch leisten können. Wer als Mann allein kommt, zahlt 2000 Rupien. Eine Menge Geld, wenn man bedenkt, dass ein Busfahrschein 30 Rupien kostet, etwa 50 Cent. So viel haben Doreen Grüttner und ich für den Weg nach Bamhani gezahlt, gut 30 Kilometer südlich von Nagpur. Dort arbeitet sie als Freiwillige im Sangam Base Center.
Eine Hup-Sinfonie
Der Verkehr am Sonntag-Vormittag war im Unterschied zur Nacht sehr gut zu hören. Und auch zu riechen, knatternde Rikschas, röchelnde Busse, und überladene Motorräder, kaum eine Sekunde ohne Hupen. „Horn please!“ hat jemand mit weißen Buchstaben auf seine Rikscha gepinselt. Mein Eindruck: Die Farbe hätte er sich sparen können. Abgas-Schwaden liegen schwer in der Luft, am Straßenrand inmitten dieses organisierten Chaos sitzen ganze Familien. Sie leben dort, sagt Doreen. Hm. Wie lange die wohl arbeiten müssten für einen Disco-Besuch? Der Busfahrer hupt sich die Straße Richtung Süden entlang. Statt einen Knopf zu drücken, hält er einfach zwei Drähte zusammen. Und jedes Mal klingt die Hupe wieder anders. Eine ganze Sinfonie.
Der Empfang im Base Center: wie schon am Samstag Abend im Gästehaus sehr herzlich, sogar mit Blumen und Ansprache. Und Indisch Essen für Fortgeschrittene – ohne Besteck und nur mit der rechten Hand. Na ja, mit ein bisschen Übung... Und lecker ist es!
Im Base Center lernen Inderinnen aus der Gegend zu nähen, junge Männer kriegen eine Mechanikerausbildung und wohnen in der Zeit auch dort. Doreen Grüttner zeigt mir die Modellprojekte für Wassermanagement. Das wird in den kommenden Jahren wegen des Klimawandels immer wichtiger. Nur ist das bei vielen Bauern noch nicht angekommen.
Wie geht Cricket?
Nach dem Rundgang über das Gelände geht es auf die andere Seite der Fernstraße zum lokalen Cricketderby. Volkssport in Indien. Jede Menge begeisterte Inder (keine Inderinnen!), die aber plötzlich alle nur noch uns anschauen. Etwas seltsam ist das schon, plötzlich eine Art Attraktion zu sein. Aber nach Bamhani kommen selten Fremde. Schon in Nagpur sind Touristen eher selten, und mit meinen knapp zwei Meter Körperlänge bin ich auch wirklich nicht zu übersehen. Dann jubelt ein Team. Gewonnen. Wie? Keine Ahnung. An die Cricketregeln habe ich mich noch nicht rangewagt. Über den Besuch im Dorf und warum manche Rinder blaue Hörner tragen, morgen mehr. Ich gehe schlafen, den Kopf voller Bilder von einem Tag Crash-Kurs Indien. Sogar die Grille vor dem Bürofenster scheint jetzt Feierabend gemacht zu haben. Na dann.
Dienstag, 8.12.2009: Soziogramm einer Gesellschaft
Erst zu den Armen, dann zu den Reichen und am Schluss zur Mittelklasse. Heute ging es quer durch die indischen Bevölkerungsschichten. Begonnen hatte der Tag mit einem Besuch im Slum Sarasvati. Dieses Mal immerhin nach drei Stunden Schlaf. Hätte mir aber noch länger Zeit lassen können. Die Abfahrt verzögerte sich. Uhrzeiten in Indien sind eher grobe Anhaltspunkte. Und überhaupt: Was ist schon eine Stunde unter Freunden? Wer einen Plan macht, muss auch die Kraft haben, ihn zu ändern.
Als wir nach Sarasvati fuhren, hatte ich einen Slum im Kopf, den ich im letzten Jahr in Nairobi besucht habe. Dort gab es nur Wellblechhütten, hier gemauerte Häuser. Aber die Armut ist ähnlich. Und die farbenfrohen Kleider der Frauen und ihr Lachen lassen einen das allenfalls für einen kurzen Moment vergessen.
Vom Slum in die Welt der bunten Lichter
Dann das Kontrastprogramm: Das Fiona, erst Mitte Oktober eröffnet, ein Restaurant und eine ganz in Weiß gehaltene Loungebar. Die Stimmung macht ein ausgefeiltes Lichtsystem, das 687 verschiedene Farben zaubern kann. Oder waren es 768? Das Restaurant gehört einem jungen Paar, das unverheiratet ist. Beide waren sehr freundlich, er kam zehn Minuten später (na ja, ungefähr...), aber wir durften auf ihn bei Kaffee, erstaunlich guten Pommes Frites und der ersten Wasserpfeife meines Lebens warten. Trotzdem – so viel Luxus nach so viel Armut... Das ist nicht nur eine fremde Welt, die ich hier kennen lerne, das sind eine ganze Menge Welten mehr.
Zu Gast bei Mamta
Abends waren wir dann bei Mamta und ihrer Familie eingeladen. Sie arbeitet im Ecumenical Sangam, bei dem Doreen Grüttner als Freiwillige ist. Ihr Haus ist so schmal, das ich darin nicht quer schlafen könnte. Gleich neben dem Eingang der Fernseher, der auch bei Besuch in voller Lautstärke läuft. Die kleine, gut organisierte Küche auf dem Treppenabsatz zum ersten Stock. Außer Doreen und mir waren noch eine weitere Freiwillige mit ihrem Vater da, der gerade zu Besuch ist. Vor dem Essen wollte uns Mamta aber erst einmal den nahegelegenen Sikh-Tempel zeigen.
Am Eingang stand ein bärbeißig aussehender, golden gekleideter Wächter mit Säbel, der sich dann aber als ganz freundlich herausstellte und sich gerne fotografieren ließ. Für die Besucher heißt es: Schuhe aus, Hände waschen, und den Kopf bedecken. Drinnen zeigte uns ein weiterer freundlicher Sikh, wo das heilige Buch jeden Abend hingebracht wird. Es wird mit größter Behutsamkeit in einem richtigen Bett zur Ruhe gelegt. Darüber muss ich noch mal etwas nachlesen. Am Ende des Besuchs im Sikh-Tempel wurde uns wie allen Besuchern noch eine bräunliche süße Paste angeboten. Eine Spezialität, die der Mann am Ausgang mit seinen Fingern aus einer Blechbüchse holte und auf ein Stück Zeitungspapier schmierte. Lecker, sagte Doreen Grüttner. Ich habe die Paste immerhin probiert, süßlich irgendwie. Und dann aß Doreen meine Portion mit.
Mittelschicht auf Indisch
Mamta und ihre Familie zählen sich zur Mittelschicht. Viel Geld haben sie trotzdem nicht. Aber sie war kaum davon abzubringen, uns sogar noch die Fahrten mit der Rikscha zwischen ihrem Haus und dem Gästehaus zu bezahlen. Gastfreundschaft wird hier wirklich groß geschrieben. Allerdings war kurz vor elf Uhr im Viertel kaum noch eine Rikscha für die Rückfahrt zu finden. Zum Glück kamen Mamta und ihr Mann noch ein Stück durch das Viertel mit. Denn um uns auffällige Ausländer herum sammelten sich plötzlich zwei Dutzend junger, sehr neugieriger und nicht mehr unbedingt ganz nüchterner junge Männer. Alles gut, aber: Puh, ganz ehrlich! Allein wäre ich da nur ungern gewesen. Auch die anderen sagten später: Da lag schon ein leichtes Knistern in der Luft.
Gestern war ich mit Doreen Grüttner in zwei Dörfern unterwegs, um sie bei ihrer eigentlichen Arbeit zu begleiten. Mit Bauern Gespräche über Bio-Landwirtschaft, organic farming, zu führen. Die Straßen waren holperig, aber Mobilfunknetz gibt es in der kleinsten Hütte. Und einen Chai, den gesüßten Gewürztee, dazu.
Doreen spricht wirklich fließend Hindi, beeindruckend. Und sie schafft es, auf ihre Art immer sanft und auf Augenhöhe Kontakt zu den Menschen herzustellen.
Mittwoch, 10.12.2009: Meine Festplatte ist voll
Nach drei Tagen ist mein Eindruck-Speicher so voll wie mein Laptop mit meinen Fotos. Ich fühle mich, als wäre ich schon drei Wochen hier. Nicht nur wegen der Bilder. Sondern weil ich im Zeitraffer so viel entdecke, Menschen begegne, besser kapiere, wie manches zusammenhängt und mit der Nase darauf gestoßen werde, wie anders diese Kultur in vielen Dingen ist. Spannend.
Apropos: Feinstaub…
Zum Glück muss ich in Nagpur nicht Auto fahren. Der Straßenverkehr folgt hier anders als in Deutschland keiner klaren Ordnung, sondern eher dem Prinzips eines Schwarms. Irgendwie muss man sich eben umeinander bewegen. Und das klappt erstaunlich gut. Aber als dieser riesige Laster beim Abbiegen uns bedrohlich nah kam... Und die Straßenarbeiter, die von Hand den Bordstein der Blumenrabatte in der Straßenmitte gelb und schwarz pinseln, müssen schon die Ruhe weg und viel Vertrauen darauf haben, dass es das Schicksal in diesem Gedränge gut mit ihnen meint. Aber auch wenn der Verkehr übersichtlicher wäre – ich wäre verloren: Für mich sehen die meisten Straßen gleich aus. Und bei den beißenden Abgasschwaden, die man im Verkehr statt Luft atmet, hilft nicht einmal mehr eine Grobstaubverordnung. Mein Halstuch vor der Nase auch nichts. Gegen das, was man da bei den Rikschafahrten einatmet, war die Wasserpfeife heute reiner Sauerstoff.
Farbenlehre auf Indisch
Ach, und dann ist da ja noch das Rätsel der blauen Ochsenhörner – um ganz ehrlich zu sein: Hier gibt es offenbar viele Wahrheiten. Das Internet verriet mir, dass das helle Blau des Himmels Glück bringen soll. Stimmt nicht, sagt mir dann ein freundlicher Inder, das sei die Farbe der Dalits, der Unberührbaren. Gewesen. Früher mal. Und dann gab es auch noch das Angebot, hellblaue Farbe sei einfach billig. Oder auch nur schön. Manche Rätsel kann man einfach nicht lösen. Jedenfalls nicht innerhalb von zwei Tagen in Indien. Aber ich bin ja noch bis Freitag hier.
Indische Nächte sind lang
So, jetzt ist es wieder mal früh geworden. Vor dem Aufstehen lege ich mich noch eine Stunde hin. Heute lag es aber am Besuch bei Mamta. Und das ist ein schönerer Grund als der gestern. Da trieben mich die Grillen wieder Richtung Wahnsinn. Ich habe dann erst unter meinem Pullover meinen Radio-Beitrag aufgenommen, dann in den Schrank in meinem Zimmer gesprochen, was genau so schlecht klang, und erst nach mehreren Anläufen die Lösung gefunden: Ich habe mir eine Art Schallkabine aus den Polstern des Sofas im Sangam-Büro gebaut. So konnte ich den Grillen ein Schnippchen schlagen.
Für den aufgeregten Wachhund, der während meiner Aufnahme sehr ausdauernd Laut gab, um dem großzügigen Hupen eines Autos nebenan zu antworten, war die Schallisolierung dann aber doch nicht genug. So kommt eine Minute zur andern. Jetzt ist alles fertig. Damit könnte ich eigentlich meinen Beitrag überspielen und das Manuskript und die Bilder mailen. Wenn, tja, wenn das Internet nicht ausgefallen wäre. Was an der staatlichen Gesellschaft liegen soll. Morgen könnte es wieder funktionieren. Könnte. Muss aber nicht.
Doreen hat deshalb organisiert, dass ich morgen früh ins Internetcafé gegenüber kann. Denn bis fünf Uhr deutscher Zeit, also neun Uhr dreißig in Nagpur, muss mein Beitrag überspielt sein. Das Internetcafé macht eigentlich erst um elf auf, also viel zu spät für mich. Aber wir haben uns geeinigt: Der Besitzer kommt um neun, und ich miete dafür alle zehn Plätze für eine ganze Stunde. Damit es sich für ihn auch lohnt. Er bekommt dafür die Gesamtsumme von sage und schreibe umgerechnet fünf Euro. Aber wenn ich damit dabei bin, soll es mir recht sein. Bin gespannt, ob der Besitzer die Uhrzeit deutsch oder indisch interpretiert. Aber in Indien muss man seine Pläne eben ändern können. Und wenn es gar nicht anders geht, baue ich auf der Terrasse vor meiner Honeymoonsuite einfach das mitgebrachte Satellitentelefon auf. Wozu habe ich das ganze Zeug denn sonst geschleppt?
Donnerstag, 9.12.2009: “Hello Sir, hello Sir!”
Egal, wo man hingeht, überall verfolgt einen dieser Ruf, es bleibt fast nie bei neugierigen Blicken. Fußgänger, Motorradfahrer, Tempelbesucher, Schüler, für jeden sind wir eine Attraktion. Nicht wenige Inder zücken sofort ihre Handys, um ein schnelles Foto zu schießen. Doreen kennt das inzwischen zur Genüge. Man muss nicht Hindi können, um zu verstehen, wenn sie dem nächsten Fotografen klar macht, dass sie die Nase voll davon hat. Nur manchmal, wenn jemand freundlich fragt, gibt sie mit einem kleinen Seufzer nach.
„Oh, Germany…“
Für mich ist das eine neue Erfahrung, so fremd zu sein, ein „Foreigner“, wie manche im Vorbeigehen raunen. Und ehrlich gesagt, ich kann verstehen, dass Doreen keine Fotos mehr will. Mir geht es schon nach ein paar Tagen auf die Nerven, an jeder Straßenecke dieselben Fragen zu hören: „What’s your name?“, „What’s your country?“ - „Oh, Germany!“ – das ist jedem ein Begriff. Und alle wollen einem die Hände schütteln. Irgendwann habe ich dann, es spielt ja sowieso keine Rolle, lächelnd die Identitäten gewechselt. Für die meiste Verwirrung sorgte ich, als ich sagte, ich sei aus Estland. Aber auch den Spieß umzudrehen und Gegenfragen zu stellen half. Natürlich, diese indische Offenheit gegenüber Fremden ist einerseits etwas Schönes, aber auf Dauer ist Exot zu sein wirklich kein Spaß.
Sirtaki und Square Dance
Lustig war es aber, als wir auf dem Weg zum Hindu-Tempel von Ramtek an einer bunten Hochzeitsgesellschaft vorbeikamen. Die Feiernden tanzten einfach entlang der Straße und scherten sich nicht um Abgase und vorbeidonnernde Lastwagen. Statt auf dem traditionellen Schimmel saßen Braut und Bräutigam am Ende des Zuges im weißen, farbenfroh geschmückten Auto. Als wir ausstiegen, wurden wir sofort eingeladen mitzutanzen, nicht nur mit Worten, sondern mit fröhlich-festen Handgriffen. Zum Jubel der Feiernden machten Doreen und ich zur Musik von Trommeln (live) und Pfeifen und Flöten (aus Lautsprechern) ein paar Tanzschritte. Meine Einlage war eine wenig indische Mischung aus Sirtaki und Square Dance. Hoffe mal, dass das Hochzeitsvideo nicht im Internet landet. Unser Fahrer, Hagovind, war aber so begeistert, dass er einen Zehn-Rupien-Schein zückte, einmal über meinen Kopf schwenkte und an die Trommler weiterreichte. „I am happy!“ strahlte er, bevor wir wieder ins Auto stiegen.
Der Fluss des Lebens
Nur ein paar Kilometer weiter überquerten wir dann die Brücke über den Fluss Kanhan. Schon von weitem war die Menschenmenge am Ufer zu sehen. Und wenn ich auch in diesen Tagen vieles Neue kennen gelernt habe, dort habe ich das Indien gefunden, wie man es aus Bildbänden kennt. Menschen baden oder waschen ihre Wäsche, Kinder spielen, während Fischer mit einem Netz durch das Wasser waten. Ein Mann mit kahlgeschorenem Kopf steigt aus dem Fluss, die Rasur ist ein Zeichen der Trauer über den Tod eines Verwandten.
Ein anderer trägt die Asche eines Toten in einem kleinen Sack bei sich, um sie in den Fluss zu streuen. Volksfest, Alltag, Trauerstätte, alles kommt an diesem Flussufer zusammen.
Schwein gehabt
Ich bin ein guter Mensch. Das hat mir der Besuch des Hindu-Tempels in Ramtek gezeigt. Dort steht vor dem Tempel die Figur eines riesigen steinernen Schweins. Wenn man es schafft, unter dem Bauch hindurchzukriechen, ist man ein guter Mensch. Sagt Hagovind, der als Fahrer des Ecumenical Sangam schon unzählige Male Gäste hierher gebracht hat. Und Hagovind ist sich sicher: In den letzten Jahren ist die Figur noch gewachsen. Ich frage mich, ob es dadurch leichter oder schwerer geworden ist, unter ihr durchzukriechen.
Freche Tempelaffen
Auf dem Weg zum Eingang des Tempels von Ramtek kann man an einer langen Reihe von Ständen jede Menge Nippes erstehen, zum Beispiel Plastikschwerter für Kinder, aber auch Opfergaben für die Götter. Die legt man dann in ein kleines Plastikkörbchen, zieht seine Schuhe aus, wäscht - wie es das Reinigungsritual verlangt - symbolisch Hände und Füße, und betritt barfuß den eigentlichen Tempel. Die Schuhe lassen wir in der Obhut einer Standbesitzerin, die Hagovind kennt. Dann gehen wir zu verschiedenen Priestern, die in Tempelräumen sitzen und die Opfergaben entgegennehmen, gerne auch noch eine Spende. Im Gegenzug erteilen sie ihren Segen und zeichnen einem ein rotes Mal in die Mitte der Stirn. Was der Priester sagt, verstehe ich natürlich nicht. Ich mache einfach nach, was Hagovind und Doreen tun. Die Priester haben übrigens wie auch manche Besucher kurze Stöcke dabei. Die haben aber keinen rituellen Charakter, sondern einen ganz handfesten Zweck: Man kann sich mit ihnen gegen die frechen Tempelaffen verteidigen. Die kennen keine Scheu. Als Hagovind einen Moment in die falsche Richtung blickt, hat sich einer der Affen aus dem Körbchen mit den Opfergaben schon die Tüte mit den bunten Zuckerstückchen geklaut. Meckernd flieht er mit der Beute, es klingt fast wie ein hämisches Kichern. Hagovind nimmt es mit Humor.
Freitag, 10.12.2009: Bollywood und bittere Armut
Am Donnerstagabend wollte ich gerne ins Kino, einmal Bollywood sehen, wenn ich schon in Indien bin. Auch wenn Bombay inzwischen in Mumbai umgetauft wurde, heißt es ja weiter Bollywood und nicht Mollywood. Wir sind dann zu viert zum örtlichen Kinopalast. Der Film hatte aber schon angefangen und während wir überlegten, was wir stattdessen machen, zupfte mich ein Mädchen am Ärmel, vielleicht sieben Jahre alt und ärmlich gekleidet. Sie streckte bittend die Hand aus, und als sie den Kopf drehte, sah ich, dass ihr rechtes Auge nur milchig grau war. Blind. Eine zufällige Verletzung? Mehr als einmal habe ich gehört, dass Kinder mit solchen Verletzungen beim Betteln mehr einbringen. Was macht man in einem solchen Moment? Geld geben oder nicht? Ich habe es nicht getan. Und zusammen mit einer der jungen Frauen aus unserer Gruppe lange überlegt, wie man sich wohl am besten verhält. Wir sind am selben Abend dann noch Eis essen gegangen. Traumfabrik, Eiscreme und brutale Wirklichkeit. Indiens Kontraste.
Tückische Technik
Am Freitagnachmittag habe ich die Satellitenanlage dann doch noch aufgebaut, auf dem Dach des Gästehauses. Doreen Grüttner war zu einer Satellitenschalte mit hr3 verabredet. Und wie es immer so ist: Der Test funktionierte wunderbar, aber als es dann ernst wurde, bekamen wir ein unerwartetes Problem. Die einzige Wolke am Himmel über Nagpur stand genau zwischen unserem Satellitentelefon und dem Satelliten über dem Indischen Ozean. UUnd das reichte schon, um die Verbindung abreißen zu lassen.
Wir hatten ein Zeitfenster von 15 Minuten. Die Wolke schien bei fast vvölliger Windstille deutlich mehr zu haben. Da half es auch nichts, die Satellitenantenne hin und her zu schieben, wir mussten fünf endlos lange Minuten warten, bis wieder Sonnenlicht auf die weiße Antennenfläche fiel.
Und dann klappte es. Abends dann, bei meinem letzten Einsatz aus Nagpur, lief vom Dach des Gästehauses alles reibungslos. Eine Schalte mit dem MDR über eine Woche für das ARD-Auswärtsspiel in Nagpur, über Doreen Grüttner und ihre Arbeit. Danach baute ich ab und packte zusammen, um dann zum Abschiedsessen zu gehen.
Samstag, 11.12. 2009: Goodbye, India!
Und jetzt sitze ich im Flieger nach Hause. Ich hätte nicht gedacht, dass mir der Abschied von Nagpur so schwer fällt. Eine Woche Bilderflut, eine Woche voller Begegnungen, eine Woche Beiträge und Blog in Nachtschicht. Ich habe viel über Indiens verschiedene Gesichter gelernt. Mit den Bildern von hier sieht man auch manches in Deutschland wieder ein Stück anders. Ich habe erfahren, wie Entwicklungshilfe in der Praxis funktioniert, wie Menschen sich engagieren und an welche Grenzen sie dabei stoßen. Es sind nicht wenige. Manche liegen in der Organisation, manche daran, dass eine gute Idee nicht automatisch zu einem guten Ergebnis führt, manche an Indiens Eigenheiten. Es ist schwer, in den Berichten allen Facetten gerecht zu werden. Ich habe viel Gastfreundschaft genossen und sage dafür Danke! Und trotz allen journalistischen Abstands – es ist schon so: Das Indien, das ich kennen gelernt habe, hat mich in seinen Bann gezogen.
Doreen hat einmal gesagt, sie habe sich schon bei ihrer ersten Reise in Indien verliebt, aber es sei keine einfache Beziehung. Verliebt bin ich nicht. Aber unter die Haut gegangen ist mir manches schon. An dem Punkt denke ich wie Doreen, ohne die ich nie so viel Einblicke gewonnen hätte: Ich glaube, ich muss wiederkommen. Um das Land der „unbegrenzten Unglaublichkeiten“ noch besser zu verstehen.
Autor: Marc Kleber
Redaktion: Birgit Görtz