NGO: Staaten in Nahost entlasten
22. September 2015Abschottung funktioniert nicht mehr: Das ist eine der Schlussfolgerungen der Präsidentin der deutschen Welthungerhilfe, Bärbel Dieckmann, aus der aktuellen Flüchtlingskrise. Der Grund, so Dieckmann am Dienstag in Berlin, sei die zunehmende mediale Vernetzung zwischen Arm und Reich. "Menschen, die im absoluten Elend leben, können gleichzeitig durch moderne Medien sehen, wie man woanders lebt." Das erfordere neue politische Antworten, einmal bei der Bewältigung der Krise innerhalb Europas, aber auch bei der Bekämpfung der Fluchtursachen. "Wir brauchen eine neue Ordnung im Nahen Osten", so Dieckmann. Sie erinnerte daran, dass die Hauptlasten der derzeitigen Flüchtlingskrise von einer Handvoll fragiler bis instabiler Staaten in Syriens Nachbarschaft geschultert würden - darunter der Libanon, Jordanien, die Türkei und der Iran. Damit diese Länder nicht an der Bewältigung der Flüchtlingskrise zerbrechen, brauche es europäische Solidarität. Und neben schönen Worten, auch deutlich mehr finanzielle Unterstützung: "Eigentlich wollen die Flüchtlinge nämlich in ihren Ländern bleiben."
Finanzielle Engpässe behindern Nothilfe
Besonders frappierend sei da, so Dieckmann, dass es in den Hauptaufnahmeländern für Flüchtlinge am Nötigsten mangle. "Dass das Welternährungsprogramm die Unterstützung von Flüchtlingen in Syrien oder in den Lagern in Jordanien und im Libanon halbieren muss, das ist ein Skandal." Ein Skandal mit Ansage, denn auch acht Monate nach Jahresbeginn seien bei der UN-Welternährungsorganisation erst 41 Prozent der für dieses Jahr von den UN-Mitgliedsstaaten zugesagten Finanzmittel überwiesen worden. Die Welthungerhilfe versorgt nach eigenen Angaben derzeit rund 100.000 Menschen im türkisch-syrischen Grenzgebiet mit Essen. Dabei sei in ihren Camps die Grundversorgung gewährleistet, so Dieckmann. Dennoch fehle es an Elementarem, wie beispielsweise Schul- und Arbeitsplätzen. Noch sei die Versorgung in den Welthungerhilfe-Camps dank privater Spendengelder aus Deutschland gesichert. "Aber auch wir stoßen an finanzielle Grenzen", warnte die Ex-Politikerin mit Blick auch auf die deutsche Bundesregierung. Das Jahresbudget der Welthungerhilfe beläuft sich in diesem Jahr auf 200 Millionen Euro, ein Drittel davon fließt in Nothilfe-Maßnahmen wie in Syrien.
Gabriel sagt Ländern weitere Hilfe zu
Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel, der zur Zeit Flüchtlings-Camps in Jordanien, im Libanon und in der Türkei besucht, sagte im Namen der Bundesregierung deutlich mehr finanzielle Hilfen für die Anrainerstaaten Syriens zu."Wir wollen mehr tun, aber andere müssen mitmachen." Aus Brüssel sei signalisiert worden, dass die EU zusätzlich 1,5 Milliarden Euro mehr Mittel für die Flüchtlingshilfe in Syriens Nachbarschaft ausgeben will. Gabriel forderte die Golfstaaten, ebenso wie die USA dazu auf, diesem Beispiel mit ähnlich großzügigen Spenden zu folgen. Werde den Menschen in den Lagern nicht geholfen, würden auch sie in Richtung Europa ziehen in der Hoffnung, dort eine Zukunft finden zu können. "Deshalb ist es auch in unserem Interesse, zu helfen", so der Minister.
Im Zentrum der zweitägigen Reise Gabriels steht ein Besuch des größten Flüchtlingslagers Jordaniens Za‘atari an der syrischen Grenze. Die ursprünglich für 25.000 Menschen geplante Siedlung wird derzeit von weit mehr als 80.000 Menschen genutzt. Angesichts teilweise katastrophaler Bedingungen versuchen derzeit immer mehr Syrer, das Lager in Richtung Europa zu verlassen. "Ich glaube, dass wir insgesamt sofort die Hilfen für die Vereinten Nationen drastisch erhöhen müssen", sagte Gabriel nach der Besichtigung eines Camps. Die Bundesregierung hatte in den jüngsten Etat-Verhandlungen für den Bundeshaushalt 2016 zugesagt, die Mittel für Auswärtiges und Entwicklungszusammenarbeit um insgesamt 1,6 Milliarden Euro aufzustocken. In Anbetracht von 60 Millionen Flüchtlingen weltweit bleibe Deutschland hier dennoch hinter seiner gestiegenen internationalen Verantwortung zurück, sagte Dieckmann in Berlin.
Von der Willkommens- zur Integrationskultur
Und auch in Europa und insbesondere für Deutschland gebe es dringenden Handlungsbedarf, so Dieckmann. Bund und Länder müssten bei ihrem Flüchtlingsgipfel am Donnerstag den Weg dafür ebnen, dass auf die aktuelle Nothilfe eine gemeinsame Integrationsanstrengung für die zigtausenden Neuankömmlinge folge. "Das ist jetzt besonders wichtig", so Dieckmann. Eine Forderung, die heute auch von höchster UN-Ebene bekräftigt wurde. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon äußerte sich in einer in Genf verbreiteten Erklärung tief besorgt darüber, dass sie Situation für Flüchtlinge in Europa nicht besser, sondern schlechter zu werden droht. Als Beispiele nannte der UN-Chef die Schließung von immer mehr Grenzen ebenso wie die Kriminalisierung und Festnahme von Flüchtlingen. Der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, António Guterres, rief die EU-Staaten auf, die Verteilung von weiteren 120.000 Flüchtlingen innerhalb der EU schnell zu beschließen – denn die Situation werde "zunehmend chaotisch und unvorhersehbar".
Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR kommen derzeit täglich etwa 6.000 Menschen an den europäischen Küsten an. Eine Sprecherin des UNHCR betonte in Genf, Syriens Nachbarstaaten hätten vergleichbare Herausforderungen erfolgreich gemeistert. Dass dies in Europa nicht gelinge, so die Sprecherin, zeige die Fragmentierung der EU in der Flüchtlingspolitik, die es mit Entscheidungen dieser Woche zu überwinden gelte. Auch Welthungerhilfe-Präsidentin Dieckmann forderte, dass sich die Staats- und Regierungschefs der 28 EU-Mitgliedsstaaten bei ihrem Sondergipfel am Mittwoch in Brüssel zu einer Verteilungsquote für Flüchtlinge durchringen. Zudem brauche es über die genannten Summen weitere finanzielle Mittel. Wie viel, darauf wollte sich die NGO-Vertreterin nicht festlegen lassen. "Auch das sind Milliarden-Beträge."