Mit Märchen gegen Genitalverstümmelung
6. Februar 2022Als Kind spielte Ntailan Lolkoki mit ihren Schwestern in der unendlichen Weite des kenianischen Nordens. Sie hüteten Ziegen, badeten im Fluss und kehrten mit Einbruch der Dunkelheit heim in ihre Manyatta, die traditionelle Behausung. Es war ein unbeschwertes Leben. Ein schönes Leben. Doch als Als Ntailan Lolkoki zwölf Jahre alt ist, fand es ein jähes Ende: Gemäß der Tradition ihrer Stämme - sie ist zur Hälfte Massai, zur Hälfte Samburu - wurden sie und ihre Schwestern beschnitten. Die traumatische Erfahrung verstümmelt nicht nur ihren Körper, sondern auch ihre kindliche Seele.
Alle elf Sekunden wird ein Mädchen verstümmelt
So wie Ntailan Lolkoki ergeht es etlichen Mädchen jeden Tag: In insgesamt 28 Ländern Afrikas, auf der Arabischen Halbinsel und in Teilen Asiens wird Genitalverstümmelung, auch bezeichnet als FGM/C (Female Genital Mutiliation oder Cutting), praktiziert. Aber auch in Europa nimmt aufgrund von Migration die Zahl betroffener Frauen zu. Weltweit leben rund 200 Millionen Frauen mit verstümmelten oder beschnittenen Genitalien. In vielen Kulturen symbolisiert die Beschneidung den Übergang eines Mädchens zur Frau. Sie ist danach "rein" und heiratsfähig. Doch das Ritual wird vermehrt auch an Säuglingen vorgenommen - mit zunehmend verschärfter Gesetzeslage fällt ein ständig weinender Säugling weniger als ein über Schmerzen klagendes Kind auf.
In Ntailan Lolkokis Heimatland Kenia ist weibliche Genitalverstümmelung seit 2011 verboten. Doch wie in vielen anderen afrikanischen Ländern werden die Mädchen vor allem in den ländlichen Regionen weiterhin beschnitten: zumeist ohne steriles Werkzeug - mit Messern, Rasierklingen oder Scherben - und ohne Betäubung. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass 25 Prozent der Mädchen während der Beschneidung oder an deren Folgen sterben. Es ist eine grausame Tradition, die bei den überlebenden Frauen Traumata und lebenslanges physisches und psychisches Leiden verursacht.
Im Kampf gegen jahrhundertealte Tradition
Die in Berlin lebende Künstlerin Ntailan Lolkoki möchte Mädchen und Frauen vor diesem schrecklichen Schicksal bewahren. Dazu hat sie ein afrikanisches Märchen geschrieben: "The Kingdom of Watetu and Songaland" (Das Königreich der Watetu und Songaland) erzählt die Geschichte zweier Stämme, die im Frieden miteinander leben, bis sich die Prinzessin der Watetu gegen die in ihrem Stamm praktizierte Tradition der Beschneidung auflehnt und vor ihrer eigenen Beschneidung flieht. Hilfe bekommt sie vom Prinzen der Songaland, die diese Praxis ablehnen. Zwischen den beiden Volksgruppen kommt es zum Streit...
"Ich habe diese Erzählform gewählt, da ich das afrikanische kulturelle Setup bewahren wollte", so Lolkoki im Interview mit der DW. Ihr Buch zeige die Realität in Afrika, wo viele Stämme mit sehr unterschiedlichen Traditionen zusammenlebten. "Als ich als Kind mit dem Samburu-Stamm aufwuchs, hassten die Samburu die Turkana. Und warum? Weil sie (die Turkana) sie (die Mädchen) nicht verstümmelten."
Lolkokis Roman hat stark autobiografische Züge. Zwar konnte sie im Gegensatz zu ihrer weiblichen Hauptfigur ihre eigene Beschneidung nicht verhindern, doch auch sie kehrte ihrem Land und ihrer Kultur aufgrund der traumatischen Erfahrung zunächst den Rücken. Durch die Verbindung mit einem britischen Soldat, den sie in Nairobi kennenlernt, zieht sie in den 1980er-Jahren zuerst in die englische Provinz und dann in die deutsche Stadt Dülmen. Die Ehe ist unglücklich. Vor allem deswegen, weil Lolkoki aufgrund ihrer Beschneidung den Kontakt zum eigenen Körper verloren hat: Da ihr als Kind die Klitoris entfernt wurde, ist sie außerstande, sexuelle Lust zu empfinden. Und für sie hat diese physische Taubheit auch Auswirkungen auf ihr emotionales Gleichgewicht.
Aussöhnung mit der eigenen Kultur
Die Ehe wird geschieden und Lolkoki zieht in die deutsche Hauptstadt. In Dülmen war sie als Model entdeckt worden. Über Kontakte findet sie auch Einstieg in die Berliner Modebranche. Doch glücklich wird sie auch hier nicht. "Mit Anfang 20 wurde mir 1989 bewusst, dass ich für die Suche nach mir selbst und nach dem Sinn des Lebens nach Kenia zurückkehren muss", schreibt Lolkoki in ihrer Autobiografie "Flügel für den Schmetterling". Es wird Jahre dauern und mehrere Reisen zwischen ihrer ursprünglichen Heimat Kenia und in ihrer Wahlheimat Berlin, bis sich Lolkoki mit ihrer eigenen Kultur versöhnen kann.
"Ich glaube, dass ein Mensch dann stark ist, wenn er mit seinen kulturellen Wurzeln verbunden ist", so Lolkoki rückblickend. Sie erkennt, dass sie viele Aspekte an ihrer Kultur sehr schätzt: Die Tänze, die Gemeinschaft, die Verbundenheit mit der Natur. Und was sie tun kann, um gegen den grausamen Part ihrer Kultur zu kämpfen: Ihr Ziel ist es, dass ihr aktuelles Buch "Das Königreich der Watetu und Songaland" in den Lehrplan an afrikanischen Schulen aufgenommen wird.
Mit Unterstützung der kenianischen Botschaft plant sie derzeit eine Reise quer durch das ostafrikanische Land, um mit Schulkindern über ihr Buch zu sprechen. "Es (FGM) muss aufhören. Es ist tief verwurzelt", so Lolkoki. "Aber wenn wir aufhörten darüber zu reden, wäre das eine Verschwendung des Schmerzes, den ich durchgemacht habe oder den viele andere Menschen durchmachen. Das ist etwas, worüber man reden muss, immer und immer wieder..."
"Das Königreich der Watetu und Songaland" ist Lolkokis zweites Buch. In ihrem ersten Buch, ihrer Autobiografie "Flügel für den Schmetterling" erzählt sie offen, wie sehr sie unter ihrer eigenen Beschneidung und deren Folgen gelitten hat. Darin beschreibt sie auch, wie sie schließlich mit fast 50 endlich ihre Sexualität entdecken durfte. Im Berliner Krankenhaus Waldfriede ließ sie sich dank einer speziellen Technik ihre Klitoris rekonstruieren. Der sichtbare Teil der Klitoris ist nur die Spitze eines etwa neun Zentimeter langen Nervenstrangs, der die Vagina sozusagen umschließt. Bei der rekonstruktiven Operation öffnen die Ärzte das vernarbte Gewebe über der beschnittenen Klitoris, ziehen sie nach vorne und stellen sie somit wieder her. "In der Zeit nach meiner Rückoperation war ich von meiner eigenen Sexualität beeindruckt und entdeckte sie gerne", schreibt Lolkoki in ihrem Roman. Sie fühlt sich wie ein Teenager, dem plötzlich die Welt zu Füßen liegt.
Geschichte mit Happy End?
Doch ihr Trauma hat sie noch immer nicht vollständig überwunden. Dazu war sie viel zu lange von ihrem eigenen Körper und ihrer eigenen Identität entfremdet. "Ich weiß nicht, ob ich jemals in der Lage sein werde, mich dem vollständig zu stellen", gesteht Lolkoki im Gespräch mit der DW. Die Erinnerung an den Eingriff vor vielen Jahren, blende sie aus. "Ich habe mich gewissermaßen betäubt."
Das Schreiben ist für Ntailan Lolkoki auch ein Heilungsprozess. "Es bräuchte ein Wunder, um einen Wandel herbeizuführen", hält sie in ihrem afrikanischem Märchen fest. Ihre Geschichte hat ein Happy End. Bis es dieses auch für die beschnittenen Frauen gibt und die, die gefährdet sind, beschnitten zu werden, muss noch sehr viel geschehen. Die Tradition ist fest verankert und wird von Generation zu Generation weitergegeben. "Es geht darum, sich mit den Menschen in den Dörfern zu treffen und ein Gespräch mit ihnen zu führen und ihre Herzen zu erreichen", beschreibt Lolkoki ihre Motivation. "Das ist es, was uns verändern wird." Ihre eigenen Nichten konnte sie davor bewahren, verstümmelt zu werden. Sie hat noch vor, viele weitere Mädchen zu retten.
"The Kingdom of Watetu and Songaland" ist bislang nur auf Englisch erhältlich. "Flügel für den Schmetterling" ist beim deutschen Droemer Knaur Verlag erschienen.