Weltpremiere: "Deutschstunde" nach Siegfried Lenz
28. September 2019Günter Grass, Heinrich Böll, Martin Walser und Siegfried Lenz: dieses literarische Quartett prägte Jahrzehnte das Bild deutscher Nachkriegsliteratur. Grass mit seiner "Blechtrommel", Böll mit seinen Romanen über deutsche Zeitgeschichte, Martin Walser als Chronist der späten Bundesrepublik - und eben Siegfried Lenz mit dem 1968 erschienenen Roman "Deutschstunde". Auch als Nicht-Literaturinteressierter hatte man von diesen Autoren und ihren Büchern irgendwann schon einmal gehört.
"Deutschstunde" wurde nach seinem Erscheinen 1968 ein Bestseller
Vor allem auch, weil die Wirkung dieser vier Schriftsteller im Ausland enorm war. Böll und Grass wurde der Literaturnobelpreis zuerkannt. Die Bücher der vier Schriftsteller wurden in alle Weltsprachen übersetzt, das Quartett stand lange stellvertretend für die "Deutsche Literatur nach 1945". Der Roman "Deutschstunde" entwickelte sich nach seinem Erscheinen zu einem Bestseller im In- und Ausland. Das Buch wurde von Millionen Schülern im Unterricht gelesen, 20 Übersetzungen in andere Sprachen folgten.
Als Film holte "Die Blechtrommel" 1980 einen Oscar, auch die Bücher Bölls und Walsers wurden vielfach fürs Kino und Fernsehen adaptiert. Drei Jahre nach dem Erscheinen der "Deutschstunde" entstand 1971 auch eine vielbeachtete Verfilmung für das deutsche Fernsehen. Doch erst jetzt, ein halbes Jahrhundert nach Erscheinen des Romans, kommt ein großer Kinofilm nach dem Lenz-Stoff heraus.
"Deutschstunde" startet symbolträchtig am Tag der Deutschen Einheit in den Kinos
Welturaufführung feiert "Deutschstunde" beim Filmfest in Hamburg am 28.09. Anschließend zeigt ihn das Züricher Filmfest, bevor der Film von Regisseur Christian Schwochow nicht zufällig am 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit, in die Kinos kommt. Den Roman "Deutschstunde" darf man getrost zum Kanon der deutschen Nachkriegskultur zählen, der Film muss sich jetzt erst noch beweisen, bei Publikum und Kritik.
Regisseur Christian Schwochow hat das Buch recht werkgetreu verfilmt, aber auch eigene Akzente gesetzt. Es geht - in Buch wie Film - um die Geschichte des Siggi Jepsen, der sich in den ersten Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs in einer Strafanstalt genötigt sieht, einen Aufsatz zu schreiben. Das Thema: "Die Freuden der Pflicht". Das ist die Rahmenhandlung. Die eigentliche Filmerzählung bildet dann die Erinnerungen des Jugendlichen ab.
Ein Kind muss sich entscheiden: zwischen Vatergehorsam und Freiheitsliebe
Als Kind wächst Siggi im äußersten Norden Deutschlands auf, die frühen 1940er Jahre sind geprägt von Krieg und wirtschaftlicher Mühsal. Auch wenn in dem kleinen Dorf der Zweite Weltkrieg meist weit weg erscheint, wird der junge Siggi doch hineingezogen in einen Gewissenskonflikt zwischen zwei sich gegenüberstehenden Weltanschauungen. Auf der einen Seite steht Siggis Vater, der pflichtbewusste Dorfpolizist Jens Ole Jepsen, auf der anderen Seite dessen langjähriger Freund, der Maler Max Ludwig Nansen (auf unserem Foto oben: Ulrich Noethen als Vater, Tobias Moretti als Maler).
Zum Konflikt kommt es, als der Polizist den Auftrag erhält, den Maler zu bespitzeln, gelten dessen Bilder doch bei den Nationalsozialisten als "entartet" - als Kunst, die nicht nationalsozialistischen Idealen dient. Jens Ole Jepsen versucht seinen Sohn, der sich gerne bei dem Freigeist Nasen aufhält, für seine Ziele zu instrumentalisieren. Siggi gerät in einen Gewissenskonflikt: Soll er auf seinen Vater hören? Oder doch eher seinen Gefühlen nachgehen, der Sympathie und Freundschaft zum Künstler?
1968 war der Roman auch Ausdruck der Zeit
Das ist der Kern der Geschichte, die Siegfried Lenz Ende der 1960er Jahre erzählte - und die nun Regisseur Christian Schwochow für seinen Kinofilm übernommen hat. Der Roman erschien im Epochenjahr 1968, als Töchter und Söhne ihre Väter (und manchmal auch Mütter) mit den Geschehnissen während des Nationalsozialismus konfrontierten, als die Studentenbewegung die ältere Generation nach individueller und nationaler Verantwortung und Schuld befragte.
Auch deshalb wurde Lenz' Roman im Jahre 1968 ein Erfolg, war er doch einer der ersten, der das Thema in gut lesbarer Form für ein breites Publikum aufbereitet hatte. Für Christian Schwochow birgt der Roman allerdings auch viel aktuellen Zündstoff, den er nun mit seiner Verfilmung dem Publikum nahebringen will: "Unsere Gesellschaft hat schon fast akzeptiert, dass es wieder Diskriminierung und rassistische Ideen gibt", sagt der Regisseur: "Antisemitismus, Ausgrenzung und Abgrenzung gewinnen eine gewisse Salonfähigkeit." In der deutschen Gesellschaft nehme "antidemokratisches Denken und Fühlen" zu, ist Schwochow überzeugt.
Schwochow: "'Deutschstunde' als universelle Geschichte"
Für den noch jungen (Jahrgang 1978), aber bereits sehr erfahrenen Regisseur war es auch wichtig, dass der Film und die darin erzählte Geschichte etwas Exemplarisches ausstrahlen: "Die modellhafte Situation ist auch bei Lenz bewusst nicht naturalistisch", ordnet Schwochow die Fabel ein: "'Deutschstunde' wird so zu einer universellen Parabel, die uns nicht in der Sicherheit wiegt, eine abgeschlossene Geschichte zu verfolgen." Er habe gemeinsam mit seiner Mutter, der Drehbuchautorin Heide Schwochow, versucht, "das Exemplarische noch zu verstärken, um diese Geschichte in die Gegenwart zu holen."
Nur eines hat Christian Schwochow nicht gewollt. Die im Roman dargestellte Künstlerpersönlichkeit Max Ludwig Nansen war an den berühmten deutschen Maler Emil Nolde angelehnt. Noldes Bilder galten den Nationalsozialisten als "entartet", er hatte Berufsverbot. Nolde war aber auch, das kam erst Jahre nach Kriegsende heraus - und wurde gerade in jüngster Zeit viel diskutiert -, auch Antisemit und alles andere als ein Demokrat.
Diese Geschichte wollte Schwochow nicht erzählen - und so hat er den Maler in seinem Film auch von jeglichen Anspielungen auf Nolde befreit: "Es geht für mich in 'Deutschstunde' nicht um Nolde. Mich hat die universelle Geschichte interessiert und der große archaische Konflikt zwischen diesen beiden Freuden und dem Jungen in der Mitte."