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Neue Machtkonzentration

Vera Möller-Holtkamp17. Juni 2007

'Die blaue Welle' in Frankreich hat das Vielparteiensystem de facto abgeschafft. Im Parlament stehen sich zwei Blöcke gegenüber. Die kleinen Parteien versinken in Bedeutungslosigkeit. Frankreichs Demokratie in der Krise?

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Die 'blaue Welle' überrolt FrankreichBild: peace1374/Flickr

Eine große "blaue Welle" türmt sich auf am Horizont. Die "vague bleue" wird bald Frankreich erreichen. Für manche wirkt sie bedrohlich, andere loben den gewaltigen Schwung, der das Land aufwühlen wird, den Reformstau auflösen soll. Am Sonntag (17.6.), bei der zweiten Runde der Parlamentswahlen, werden der frisch gewählte Präsident Nicolas Sarkozy und seine blaue UMP politische Macht in fast absolutistischem Ausmaß erhalten.

Wenig pluralistisch, hohe Machtkonzentration

Nicolas Sarkozy in Spanien vor blauem Plakat, auf dem eine Krone zu sehen ist (31.5.2007, AP)
Hyperpräsident Nicolas SarkozyBild: AP

10,3 Millionen Stimmen konnte die Regierungspartei UMP schon beim ersten Wahlgang auf sich vereinen. Zusammen mit dem verbündeten Neuen Zentrum und der national-konservativen Splittergruppe "Mouvement pour la France" kommt das Regierungslager im Zwischenergebnis auf einen Stimmenanteil von knapp 46 Prozent. Und es gibt noch viele unentschiedene Wahlkreise, bei denen die UMP sehr gute Chancen hat, die erforderliche einfache Mehrheit zu gewinnen. Es zeichnet sich ab, dass Sarkozy das erhält, was seiner Kollegin Angela Merkel verwehrt blieb: klare Mehrheitsverhältnisse zum "Durchregieren". Zum ersten Mal in der Geschichte der französischen V. Republik kann sich ein frisch gewähltes Staatsoberhaupt auf eine derart üppige Mehrheit stützen.

Mangel an politischem Gegengewicht

Henri Ménudier, Politikwissenschaftler
Henri Ménudier fordert Reform des WahlsystemsBild: Bundestag

Der französische Politikwissenschaftler Henri Ménudier warnt davor, die Konzentration der politischen Macht als Demokratiedefizit zu dramatisieren. Angst müsse man vor der neuen Machtkonzentration nicht haben, sagt er. "Frankreich ist ja nicht faschistisch geworden. Bedenklich ist der Mangel an politischen Gegengewichten aber schon."

In der Volksvertretung, der Assemblée Nationale, werden in Zukunft nur noch das Regierungsbündnis und die Sozialisten in Fraktionsstärke vertreten sein. Die kleinen Parteien haben die Hürde von zwanzig Sitzen nicht geschafft. Die Zentrums-Partei (MoDem) von François Bayrou, die mit mehr als 520 Kandidaten ins Rennen gegangen ist, wird den Prognosen entsprechend nicht mehr als vier Abgeordnete entsenden können. Auf der linken sieht es nicht anders aus. Die Kommunistische Partei, einst eine der mächtigsten Parteien der Republik, landete nur auf 4,3 Prozent; die Grünen lediglich auf 3,3 Prozent. Auch der extremrechten Front National hat die "blaue Welle" den Boden unter den Füßen weggerissen. Sie fuhr das schlechteste Ergebnis seit 1981 ein. Nur eine Kandidatin hat noch Chancen ins Parlament einzuziehen - die Tochter des Parteigründers selbst.

Rückkehr zum Bipolarensystem

Dieses Dümpeln der kleinen Parteien unterhalb der Fraktionsstärke werde sie auf Dauer noch stärker marginalisieren, befürchtet Henri Ménudier. Sie erhalten in Zukunft weniger finanzielle Mittel. Und sie werden viel weniger Gelegenheit haben, sich öffentlich wirksam zu Wort zu melden, weil ihnen als Nicht-Fraktion das Rednerpult im Parlament seltner eine Bühne sein wird.

Daten und Fakten zu Frankreich

In Frankreich verzerrt das Mehrheitswahlsystem die tatsächlichen Kräfteverhältnisse im Land stark. So extrem wie heute war aber es nie. Die alte Diskussion um eine Reform des Wahlsystems ist wieder entbrannt. Die Stimmen, die ein Verhältniswahlsystem fordern, werden lauter. Das Zweiparteiensystem müsse die Demokratie nicht notgedrungen in eine Krise stürzen, meint der Leiter des Deutsch-Französischen Instituts Frank Baasner - vorausgesetzt, Sarkozy mache mit seinen angekündigten Reformen ernst: Die Stärkung des Parlaments und die Einführung einer "Dosis Verhältniswahlrecht".

Wann kommt die Reform?

Das französische Parlament blau angestrahlt (Januar 2004, Foto: Shinkansen1/Flickr)
Das französische Parlament wird blauBild: Shinkansen1/Flickr

Das sei besonders wichtig, seit der französische Präsident, genau wie das Parlament, in Fünf-Jahresabständen gewählt wird, gibt Henri Ménudier zu Bedenken. Als es noch eine siebenjährige Amtszeit gab, hat das Volk die Parlamentswahlen oft genutzt, um den amtierenden Präsidenten für seine Politik abzustrafen. Aktuell hat die Parlamentswahl fünf Wochen stattgefunden, nach dem Sarkozy den überwältigen Sieg errungen hat. Für einen Denkzettel gab es noch keine Zeit.

"Es ist absolut notwendig, dass das Wahlsystem korrigiert wird", fordert auch Henri Ménudier. Auf die richtige Dosis Verhältniswahlrecht komme es an. Experten rechnen aber nicht damit, dass Sarkozy diese strukturellen Reformen in seiner ersten Amtszeit anpackt. Jetzt will er erstmal seinem Motto "Rupture" (Bruch) Tribut zollen, indem er das Sozialsystem zu reformieren und die Arbeitslosigkeit zu senken versucht. Und das wird trotz der einzigartigen Mehrheitsverhältnisse nicht einfach werden, denn in Frankreich hat der Druck der "Straße" schon alle reformwilligen Präsidenten das Bremsen gelehrt.