Wenn der Einsatz immer wieder neu durchlebt wird
10. März 2010Der Soldat steht im Supermarkt, und gleich als erstes nimmt er alle Ausgänge ins Visier. Es ist ein Automatismus, schließlich darf von keiner Seite Gefahr drohen. Der Soldat ist angespannt, auch wenn er sich schon längst nicht mehr im Einsatz in Afghanistan befindet, sondern beim Einkauf um die Ecke.
Flotillenarzt Dirk Preusse, der Soldaten im Bundeswehrzentralkrankenhaus in Koblenz betreut, kennt solche Beispiele von Soldaten gut. "Ich bin in einer lebensbedrohlichen Lage gewesen, ich muss aufpassen, dass mir so etwas nicht wieder passiert. Alles, was mich auch nur ansatzweise daran erinnert, kann dazu führen, dass ich mich plötzlich wieder in eben diesem Zustand befinde wie bei der Traumatisierung."
Wegschieben funktioniert nicht
Kleine Auslöser, die sogenannten Trigger, reichen, um Trauma-Erinnerungen hervorzurufen. Diese Auslöser sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich – bei dem einen können es Gerüche sein, bei einem anderen bestimmte Bilder. Die Situation wird dann innerhalb eines sogenannten Flashbacks noch mal durchlebt, beschreibt Preusse.
Flashbacks sind sich aufdrängende Erinnerungen, die man nicht wieder wegschieben kann. Im Gegensatz zu einer normalen Erinnerung ist der Soldat wieder in der Situation "drin" und erlebt sie neu. Gerade unter Extrembelastungen kann es zu einer Aufspaltung zwischen emotionalem und realem Erleben kommen, erklärt der Arzt. "Soldaten lernen, Gefühle weg zudrücken, weil sie sonst bei einer Kampfhandlung gelähmt sind. Und das Erlebte wird dann nicht zusammen weggepackt, also als Erinnerung verarbeitet, sondern es existiert weiter."
Mit emotionalem Ballast zurück in die Heimat
Vor Ort haben die Soldaten kaum Zeit, das Erlebte zu verarbeiten. Das geschieht erst hinterher, wenn sie vom Einsatz wieder zurück in Deutschland sind. Aber dann kommen die Bilder und Ereignisse hoch – die Soldaten werden geplagt von Alpträumen, Schweißausbrüchen, Depressionen. "Es ist oft so, dass ein falsches Bild entsteht, dass der Betroffene nicht stabil genug sei." Dieser Eindruck aber täusche, erklärt Dirk Preusse. Man könne bei jedem Menschen eine posttraumatische Belastungsstörung auslösen. "Natürlich gibt es Leute, die schneller darauf reagieren. Aber grundsätzlich hat jeder seine Achillesfersen."
Ein Drittel der Betroffenen erholt sich nach einem Einsatz, sagt Preusse, ein Drittel entwickelt ein massives Bild einer posttraumatischen Belastungsstörung. Und das letzte Drittel kommt gut zurecht, aber eine Kleinigkeit reiche aus, um die Betroffenen aus der Bahn zu werfen.
Berichten, ohne Details zu nennen
Die Soldaten ziehen sich auch zurück, weil sie meinen, die Umwelt könne sie ohnehin nicht verstehen. Sie können ihrer Frau nicht schildern, dass ihr Kamerad auf eine Mine getreten ist und zerfetzt wurde." Nach Ansicht des Arztes wäre es auch falsch, Angehörigen so etwas zu erzählen. Zumindest nicht im Detail, denn "damit belasten sie ihr Umfeld zu sehr."
Oberstleutnant Ralph Adametz aus dem Sanitätsführungskommando in Koblenz war bei bisher fünf Auslandseinsätzen dabei, zuletzt führte er ein Panzerbataillon im Kosovo. Details wie gefundene Leichenteile verschwieg auch er zu Hause. "Vor allem am Anfang hat man Schwierigkeiten, zu erklären, wie es tatsächlich war. Man weiß, dass der andere sich das gar nicht genau vorstellen kann," sagt Adametz. Auch er erzählte erst viel später. Wenn ihn zum Beispiel etwas an das Kosovo erinnerte, wie ein bestimmtes Produkt im Supermarkt. Die Familie konnte das Erlebte dann Stück für Stück wie ein Puzzle zusammensetzen. Adametz sagt, er habe Glück gehabt auf seinen Einsätzen. Traumatische Situationen hat er nicht erlebt. Im heutigen Afghanistan erginge es den Soldaten ganz anders.
Das Umfeld ist gefragt
Wie es ihnen ergeht, hat Militärpfarrer Stefan Werdelis erlebt. Im Lager in Mazar-e-Sharif im Norden Afghanistans hat er für vier Monate Gottesdienste gehalten, Gespräche geführt und Trost gespendet. Zehn Soldaten sind während seiner Zeit im Kontingent gestorben – darunter fünf Deutsche. Werdelis betont, wie wichtig es für die Soldaten sei, dass zwischen der generellen Kritik am Afghanistan-Einsatz und der Leistung der Soldaten unterschieden wird. Die heimkehrenden Soldaten sollen sich nach der Rückkehr nicht schämen müssen, fordert Werdelis. Nicht dafür, dass sie gekämpft haben, und auch nicht dafür, dass sie eventuell Hilfe benötigen. "Sie brauchen auch ein dienstliches Umfeld, das aufmerksam hinguckt und sagt: 'Hier braucht jemand Betreuung. Und dafür muss man sich nicht schämen.'
Diesbezüglich sei man auf einem guten Weg, meint Werdelis. "Ich persönlich glaube, dass wir inzwischen eine ganz gute Tendenz haben, psychische Erkrankungen von ihrem Tabu zu befreien."
Autorin: Sarah Steffen
Redaktion: Esther Broders