"Auf einmal waren alle gegen ihn"
24. Juli 2018Baran, acht Jahre alt, radelt mit seinem Fahrrad und ein paar Freunden durch die Gelsenkirchener Innenstadt. Die Nachricht, dass Mesut Özil nicht mehr für Deutschland spielen will, hat er noch nicht bekommen. "Was?!", fragt er mit weit aufgerissenen Augen: "Aber für welches Land spielt er denn dann?"
Seit seinem Nationalmannschaftsdebüt im Jahr 2009 stand Özil 92 Mal für die deutsche Nationalmannschaft auf dem Platz, 23 Tore hat er geschossen. 2014 wurde er mit "Der Mannschaft" in Brasilien Weltmeister. Am 22. Juli 2018 schließlich erklärte er in einem dreiteiligen Statement via Twitter seinen Rückzug aus der Nationalmannschaft. Solange er dieses "Gefühl von Rassismus und Respektlosigkeit verspüre", werde er nicht mehr für Deutschland spielen, schreibt Özil dort unter anderem.
Verständnis aus der Heimatstadt
In Gelsenkirchen, im Stadtteil Bismarck, ist Özil geboren und aufgewachsen. Seine Großeltern siedelten damals mit ihrem zweijährigen Sohn, Özils Vater Mustafa, ins Ruhrgebiet über. Von der Bornstraße aus, Hausnummer 30, startete Özil seine Fußballkarriere. Der Bolzplatz, auf dem alles anfing, liegt gerade mal zwei Minuten von dem unauffälligen, gelben Reihenhaus entfernt.
"Den Özil kenne ich noch als Kleinkind", sagt Gerd K., der auf ein paar Treppenstufen an der zentralen Bismarckstraße sitzt: "Sympathischer Typ, hat hier um die Ecke immer Fußball gespielt." Auch wenn er das Foto mit Erdogan falsch fand - er würde Özil immer in Schutz nehmen. "Da soll sich der DFB an die eigene Nase fassen. Was da abläuft, ist nicht mehr schön", sagt er. Ob er Özils Rücktritt nachvollziehen könne? "Ja, ich hätte es schon früher gemacht. Es ist so, wie er sagt: Die Deutschen dürfen schlecht spielen. Aber ein Deutscher mit ausländischen Wurzeln ist dann der Dumme."
In Bismarck hat Özil überall seine Spuren hinterlassen. Die Meisten haben irgendeine kleine Geschichte über den heutigen Weltfußballer zu erzählen, der in Bismarck aufgewachsen ist. Immer wird er als ruhig und freundlich beschrieben.
Bei Volkan, dem Dönerladen um die Ecke, sollen Özil und seine Geschwister immer wieder zum Essen vorbeikommen, das weiß man im Viertel. "Wir haben durchgehend geöffnet, Özil kommt dann nachts, wenn es ruhiger ist", sagt der Inhaber des Ladens, der seinen Namen nicht in der Presse lesen will. Er beschreibt den Fußballer ebenfalls als netten, sympathischen, zuvorkommenden Menschen. Dass Özil nicht mehr für Deutschland spielen will? "Finde ich ok, ist halt seine Meinung."
Buhrufe bedeuten das Ende
Ihsan Cukur ist Ende 30 und arbeitet heute als Friseur. Lange hat er selbst Fußball gespielt, Freunde seines Bruders standen auch mit Özil auf dem Platz. "Der war immer nett. Auch als er immer besser und erfolgreicher wurde, hat er nie damit angegeben", sagt Ihsan. Für Özils Rückzug aus der DFB-Elf hat er Verständnis. "Auf einmal waren alle gegen ihn", sagt Ihsan, für den Sport und Politik getrennte Dinge sein sollten. Die Buhrufe gegen Özil? Gingen seiner Meinung nach gar nicht: "Ein Fußballer lebt ja auch von den Fans. Wenn die Fans Özil nicht akzeptieren, dann kann er auch nicht spielen."
Und Özils Erklärung, dass er zwei Herzen habe, ein deutsches und ein türkisches, das kenne Ihsan nur zu gut, sagt er - ebenso wie die Folgen, die das haben könne: "Wir sind immer dazwischen. In der Türkei sind wir Deutschländer. Und hier sind wir Deutsch-Türken oder so irgendwas. Da sind wir nicht akzeptiert und hier auch nicht. Was soll man machen?"
Angst vor Anfeindungen
In Gelsenkirchen merkt man, dass sich Deutsche mit türkischen Wurzeln zunehmend unter Druck gesetzt fühlen. Viele wollen ihren Namen nicht in Artikeln lesen - oder verraten nur den Vornamen, aus Angst vor öffentlichen Anfeindungen. So wie Name S. Die 31-jährige Lehrerin ist in Gelsenkirchen geboren und aufgewachsen. Ihre Eltern kamen als Gastarbeiter nach Deutschland. Sie hätte sich in der ganzen Diskussion um Özil von Anfang an mehr Differenziertheit gewünscht. "Es wird immer alles nur Schwarz-Weiß gesehen", sagt sie: "Aber so einfach ist es nicht."
Das Foto von Özil mit Erdogan fand Name daneben. "Das hätte er nicht machen sollen", sagt Name. "Aber das auf die Gesamtleistung der Mannschaft zu beziehen, fand ich auch grenzwertig." Deshalb kann sie auch verstehen, dass Özil mit seinem Rücktritt ein Zeichen gesetzt habe: "Bei Özil weiß man auch: Wenn das Vertrauensverhältnis nicht stimmt, dann kann der seine Leistung nicht bringen. Das war bei ihm schon immer so."
Für den achtjährigen Baran bleibt die ganze Sache aber trotz Özils Rückzug ganz klar: "Der muss für Deutschland spielen. Der ist ein guter Fußballer."