Gotthold Schwarz ist neuer Thomaskantor
13. Juni 2016Wenn Samstagnachmittags in der Thomaskirche in Leipzig der Thomanerchor eine Kantate von Johann Sebastian Bach singt, dann kommen einige hundert Menschen, darunter viele Touristen, die die berühmten Knabenstimmen hören wollen. Den Thomanerchor gibt es seit über 800 Jahren. Sein weltweit bekanntester Kantor war Johann Sebastian Bach, der den Chor 27 Jahre bis zu seinem Tod 1750 leitete. Kurz vor der Eröffnung des diesjährigen Bachfestes am 10. Juni wurde Gotthold Schwarz zum 17. Kantor der Thomaskirche nach Bach ernannt. Er tritt die Nachfolge von Christoph Biller an, der 22 Jahre lang das Amt als Thomaskantor in Leipzig inne hatte. Der Sänger, Dirigent und Organist Gotthold Schwarz war bereits Interimsleiter des Chores. Was es bedeutet, Thomaskantor und somit im weitesten Sinne Bachs Nachfolger zu sein, hat er im DW-Interview erläutert.
DW: Es heißt, als Johann Sebastian Bach 1723 das Amt des Thomaskantors in Leipzig antrat, da habe er gleich eine grundlegende Reform eingeleitet. Etwa, dass er jede Woche eine neue Kantate komponierte. Stehen bei Ihnen auch Reformen an?
Gotthold Schwarz: Also grundlegende Reformen gibt es sicher nicht. Wir werden an manchen Stellen vielleicht die Aufgaben für die Thomaner besser strukturieren, damit sie mehr Freizeit haben und sich regenerieren können und sich dann auf manche Konzertvorhaben mit etwas mehr Ruhe vorbereiten.
Das heißt, die Thomaner sind sehr stark eingespannt.
Ja, besonders in der Zeit vor Schuljahresende. Da ist noch das Bachfest und danach gleich die Sommerreise der Thomaner und am 24. Juni gibt es die Abschlussmotette, bevor es dann in die Ferien geht.
Es war ja ein längeres Verfahren, um die Stelle des Thomaskantors zu besetzen, weil die Kandidaten letztendlich nicht den Anforderungen entsprachen. Sie haben das Amt zwischenzeitlich interimsmäßig übernommen, haben aber mit der Berufung nicht gerechnet.
Ich war davon ausgegangen, dass diese Interimszeit im Sommer für mich zu Ende geht und nun ist es - etwas überraschend - anders gekommen. Aber es ist natürlich eine große Ehre und Verpflichtung, der ich gerne gerecht werde. Wenn man diese Frage gestellt bekommt, das Amt zu übernehmen, dann sagt man nicht Nein.
Sind die Ansprüche an einen Kantor der Thomaskirche besonders hoch?
Es erfordert schon eine Person mit künstlerischem und menschlichem Format. Dann wird natürlich auch erwartet, musikalische Akzente zu setzen, die vielleicht bisher nicht so im Vordergrund standen. Derjenige, der das Amt übernimmt, muss natürlich auch einen guten Umgang mit den Knaben finden. Das ist eigentlich das Allerwichtigste, dass man den Knaben als Mensch begegnet, aber auch als fordernder Musiker, der ein hohes Niveau beansprucht.
Und darüber hinaus zählt natürlich das, was wir mit unserer Musik machen wollen. Man muss den Sängern den geistlichen Inhalt der Werke nahe bringen, so dass sie den Inhalt auch dem Hörer vermitteln können.
Waren sie selbst auch Thomaner?
Ich bin kurze Zeit als Kind Thomaner gewesen, hatte dann aber zu großes Heimweh und habe den Chor wieder verlassen. Aber es gab nie eine wirkliche Trennung. Während meines Studiums habe ich als Solist mit den Thomanern gesungen und dann war ich am Ende des Studiums schon Stimmbildner des Chores.
Man sagt ja: "Einmal Thomaner, immer Thomaner" - gilt das heute noch?
Das ist sicher ein guter Spruch, und die Verbundenheit und die Prägung, die sozial stattgefunden hat, die wirkt praktisch ein Leben lang. Deswegen ist auch die gute Gemeinschaft unter den Thomanern so wichtig.
Was fasziniert denn heute noch an einem reinen Knabenchor? Man könnte ja die hohen Stimmen auch von Mädchen singen lassen.
Der hat schon einen eigenen Klang, so ein Knabenchor. Die Knabenstimmen, wenn sie geformt werden, haben ein eigenes Timbre und das ist glaube ich auch der Reiz daran. Dieser spezifische Klangfokus einer Knabenstimme vor dem Stimmbruch ist ein anderer als bei der Mädchenstimme - und das ist hörbar.
Was machen Sie mit den Jungen in der Pubertät, wenn der Stimmbruch kommt?
Die Knaben, die in den Stimmbruch kommen, in die dispensierte Zeit, so nennen wir das, sind befreit von den sängerischen Aufgaben. Sie werden aber mit organisatorischen Aufgaben oder Aufgaben für das Gemeinwesen betraut, somit hört die Verbindung innerhalb des Chores nie auf.
Wenn Sie auf Ihre Zeit mit den Thomanern zurückblicken, hat sich dieser Chor verändert im Laufe der Zeit?
Geändert hat sich nicht viel. Außer in unguten Zeiten während der Nazidiktatur oder in der DDR, wo das Leben im Alumnat, im "Kasten", wie wir den Internatsbau nennen, stark beeinflusst werden sollte, zum Beispiel durch die SED, das habe ich noch erlebt. Aus der Nazizeit gibt es Bilder, wo der Chor in der Uniform der Hitlerjugend aufgetreten ist - aber diesen Einflüssen hat der Chor widerstanden. Das ist natürlich auch dem Inhalt der Musik zu verdanken, woraus wir die Kraft schöpfen.
Und wie sehen Sie das von der musikalischen Seite her? Durch das Bach-Archiv gab es ja sehr viel Forschung in Richtung der historischen Aufführungspraxis.
Noch in den 1970er- oder 1980er-Jahren war hier in der DDR wenig zu spüren von dem, was in Europa eigentlich schon Gang und Gäbe war: sich mit dem historischen Instrumentarium zu beschäftigen. Die historische Praxis hat natürlich auch Auswirkungen auf die sprachliche Behandlung der jeweiligen Texte und die Verbindung zu Melodie und Harmonik.
Heute legen wir bei den Thomanern Wert auf die Verbindung zwischen rhetorischer Prägnanz und klanglicher Homogenität. Da können Sie eine Phrase zum Beispiel leichter und viel deutlicher für die Hörer erlebbar machen. Die Ästhetik war noch vor 30, 40 Jahren eine andere. Man strebte eher einen großflächigen Legato-Klang an, der dieses rhetorische Element nicht so stark berücksichtigte.
Welche Rolle spielt Bach heute noch für den Thomanerchor? Sie singen ja nicht mehr nur Bach.
Bach steht natürlich im Vordergrund. Wir musizieren in der Regel jede Woche eine Bachkantate oder eine Motette zu den hohen Festtagen. Für mich ist es aber auch wichtig, dass wir die alten Meister wie Heinrich Schütz und den früheren Kantor Johann Hermann Schein wieder mehr in den Vordergrund rücken. Dann gibt es noch die Musiker wie Brahms oder Mendelssohn, bei denen man die Verwandtschaft zu Bach wieder findet und wo auch dieses Element der sprachlichen Verbindung mit dem melodischen oder harmonischen Gerüst eine ganz bedeutende Rolle spielt.
Werden Sie als Thomaskantor auch Kantaten komponieren?
Nein, als Komponist werde ich mich nicht betätigen, das habe ich nicht vor. Diese Anforderung hat man an mich nicht gestellt.
Das Interview führte Gaby Reucher.