Bye, bye Boris!
7. Juli 2022Es soll ein Rücktritt in Raten werden. Boris Johnson hat zwar im Prinzip nach den Chaostagen in Westminster das Handtuch geworfen, möchte aber gerne bis Anfang Oktober noch im Amt bleiben. Solange, bis der Nachfolger auf dem konservativen Parteitag präsentiert werden könne.
Ob seine Partei ihm einen solch sanften Ausstieg gewährt, ist allerdings zweifelhaft. Böse Zungen in London vermuten sowieso, es gehe Boris Johnson darum, seine nachgeholte Hochzeitsparty noch auf dem Premierminister-Landsitz in Chequers feiern zu können. Die Einladungen sollen schon verschickt sein.
Johnson bereut nichts
Am Mittag war im Hof der seit zwei Tagen von Journalisten belagerten Downing Street das Rednerpult erschienen, das immer auf eine Rede des Premierministers an die Nation hinweist. Genau hier hatte vor drei Jahren Amtsvorgängerin Theresa May ihren Rückzug verkündet und dabei zum Schluss noch ein Tränchen verdrückt.
Boris Johnson hatte geholfen, sie aus dem Amt zu mobben, weil er den gleichen Brexit-Vertrag für untragbar erklärte, den er ein paar Monate später selbst unterschreiben und als Erfolg feiern sollte.
May mag eine gewisse poetische Gerechtigkeit darin sehen, dass es ihrem großsprecherischen Nachfolger ebenfalls nach drei Jahren aus dem Amt gekegelt hat, wenn auch aus anderen Gründen. Johnson aber zeigte zum Abschied deutlich weniger Haltung. Er machte die "Herdenmentalität" in seiner Partei für seinen Rücktritt verantwortlich, nicht etwa eigene Verfehlungen. Kein Wort kam ihm über die Lippen zu der Tatsache, das er vielleicht etwas falsch gemacht haben könnte.
Stattdessen eine Wiederholung von Johnsons "Greatest Hits": Die erfolgreiche Impfkampagne während der Corona-Pandemie - ohne allerdings die hohe Zahl der Todesopfer zu erwähnen. Der Vollzug des Brexit – ohne die Folgen zu benennen, die die britische Wirtschaft mehrere Prozentpunkte an Wachstum kosteten. Und vor allem der überwältigende Wahlsieg 2019, der ihm mit 80 Abgeordneten die größte konservative Mehrheit seit Jahrzehnten beschert hatte.
Was der scheidende Premier hier vermied, waren jedoch Selbstreflektion und die Antwort darauf, wie er einen solchen Sieg in nur drei Jahren in eine politische Talfahrt verwandeln konnte. Die Niederlage bei zwei Nachwahlen in sicheren Tory-Sitzen vor wenigen Wochen, vergaß er ebenfalls zu erwähnen. Ebenso die Reihe der Skandale, die ihn schließlich zu Fall gebracht haben. "Sorry" ist offenbar das für Johnson aller schwierigste Wort.
Während der kurzen Ansprache sang eine Menschenmenge vor der abgesperrten Downing Street "Bye, bye Boris" und machte soviel Lärm, dass die Fernsehteams drinnen die Proteste gut hörbar übertrugen. In London hat der frühere Bürgermeister schon lange keine Freunde mehr – bei der letzten Kommunalwahl hatte seine Partei fast alle Sitze verloren, sogar im erzkonservativen Westminster, dem Regierungssitz.
Wie konnte es soweit kommen?
Als Boris Johnson 2019 ins Amt kam, schrieb sein früherer Chef bei der Zeitung "The Telegraph", der Historiker Max Hastings, eine vernichtende Charakteranalyse über den neuen Premier. Er habe viel Charme und sei enorm amüsant. Dahinter aber stehe ein gespaltenes Verhältnis zur Wahrheit, ein Mangel an Interesse für Details und der fehlende Wille zu ernsthafter Arbeit.
Johnson sei nur an der eigenen Macht interessiert, so Hastings, kurzum "ganz ungeeignet" für ein hohes Staatsamt. Jeder Leser von damals dürfte sich während der Achterbahnfahrt von Johnsons Amtszeit öfter an diesen Artikel erinnert haben.
Tatsächlich war es der Hang zum Lügen, der den Premier am Ende zu Fall brachte. Anlass war ein minderer Sexskandal: Der konservative Fraktionsvertreter Chris Pincher war im Londoner Carlton Club gegenüber ein paar jungen Tory-Mitgliedern übergriffig geworden.
Affäre mit verheerende Folgen
Der Abgeordnete hatte schon früher seine Hände nicht unter Kontrolle gehabt, und Boris Johnson war darüber informiert worden. Als allerdings der jüngste Fall publik wurde, leugnete er jegliches Wissen davon. Und er schickte konservative Nachwuchspolitiker auf die morgendliche Medienrunde, wo sie für ihn gerade stehen mussten.
Einen Tag später aber flog die Sache auf und bei den Abgeordneten seiner Partei entlud sich eine enorme Wut. Sie hätten es satt, von Johnson falsch informiert zu werden und für ihn lügen zu müssen.
Es war diese kleinere Affäre, die das Fass schließlich zum Überlaufen brachte und am Dienstagabend zum Rücktritt von Finanzminister Sunak und Gesundheitsminister Javid führten, zwei Schwergewichten in Johnsons Kabinett. Dem Debakel waren übrigens weitere Sexskandale unter Abgeordneten vorangegangen, jeweils zu lange durch den Premier gedeckt, und schließlich die Mutter aller Skandale: Partygate.
Während Großbritannien im Winter 2020 in verordneter Isolation zu Hause saß und Menschen ohne ihre Angehörigen allein in Krankenhäusern starben, wurde in der Downing Street gefeiert: Mit Wein und Häppchen, Tanz und Musik. Mal bot ein Abschied den Anlass, mal der Geburtstag von Boris Johnson.
"Arbeitstreffen" mit Tanz und Musik
Die britische Öffentlichkeit reagierte fassungslos auf diese Regelverstöße und darauf, dass in der Regierung mit zweierlei Maß gemessen wurde. Doch der Premier leugnete im Unterhaus, dass die Corona-Regeln verletzt worden seien. Partys habe es nicht gegeben, stattdessen räumte er am Ende "Arbeitstreffen" ein.
Bei allem persönlichem Charme, seiner Fähigkeit amüsant zu reden, wenn auch mit viel rhetorischem Bombast, die Bürger mit immer neuen Höhenflügen zu begeistern - am Ende hielt Johnson keine seiner großen Versprechen.
Weder wurden 40 neue Krankenhäuser gebaut noch der arme britische Norden auf Londoner Niveau gehoben. Stattdessen gab es Steuererhöhungen, steigende Soziallasten und steigende Energiepreise – viele Briten haben Angst vor Armut und dem Land steht ein Sommer des Missvergnügens bevor.
Allein seine standhafte Unterstützung für die Ukraine brachte dem Premier am Ende noch ein paar wenige Pluspunkte ein. Wobei Kritiker ihm vorwarfen, er flüchte immer dann nach Kiew, wenn es zu Hause brenzlig werde.
Wie weiter nach Boris?
Schon Anfang nächste Woche will die konservative Partei beschließen, wie sie einen neuen Regierungschef auswählen will. Die große Kandidatenrunde soll zunächst durch eine Zulassungshürde eingegrenzt werden. Dann werden in Ausscheidungszweikämpfen zwei Spitzenreiter ermittelt, zwischen denen dann die Parteimitglieder entschieden müssen. Es ist das gleiche Krönungsverfahren wie 2019 bei Boris Johnson – ob das Ergebnis diesmal haltbarer ausfällt, steht dahin.
Spitzenreiter ist derzeit Verteidigungsminister Ben Wallace, darauf folgen Ex-Kanzler Rishi Sunak und die Ministerin für internationalen Handel, Penny Mordaunt. Wettbüros waren am Nachmittag mit ihren Tafeln auf der Parlamentswiese erschienen, um die Journalisten über die Spitzenreiter in der Gunst der Öffentlichkeit zu informieren.
Der Verteidigungsminister etwa hat sich in seinem politischen Leben noch nie eine brillante Rede zuschulden kommen lassen, er gilt als gradliniger Mann der Tat – vielleicht trifft er genau die Erwartungen, die Briten nach Boris Johnson an ihren Premier haben. Allerdings will Ben Wallace zunächst mit seiner Familie reden und vielleicht auch darüber nachdenken, ob er den vergifteten Kelch und die Baustelle Großbritannien von Johnson wirklich übernehmen will.