Westen und islamische Welt: Wechselseitig radikalisiert?
11. April 2021DW: Herr Weidner, diese Woche reisten Spitzenvertreter der EU zu Gesprächen in die Türkei, einem wichtigen islamisch geprägten Land und zugleich Transitland für Flüchtlinge. Was ist Ihr Eindruck von solchen Gesprächen?
Stefan Weidner: Das waren offenbar Verhandlungen ohne sonderlich greifbare Ergebnisse. Wie die Flüchtlingskrise ist meiner Ansicht nach auch die Verschlechterung des EU-Türkei-Verhältnisses ein Kollateralschaden von 9/11. Erinnern wir uns: Um die Jahrtausendwende galt Recep Tayyip Erdogan als Hoffnungsträger und die Türkei als ernstzunehmender EU-Beitrittskandidat. 9/11 hat den konservativen Kritikern eines Türkei-Beitritts Auftrieb gegeben, nach dem Motto: Der Islam gehört nicht zu Europa. Als Erdogan verstanden hat, dass die EU für die Türkei verschlossen bleiben würde, hat er sich umorientiert und dabei mehr Porzellan zerschlagen als nötig. Heute wirkt er wie ein Getriebener, und die Flüchtlinge sind sein Faustpfand gegen die EU. Ein zynisches Spiel.
In Ihrem Buch stellen Sie die Flüchtlingsbewegungen zum einen als Folge einer zynischen Politik einiger Regime im Nahen Osten dar, etwa dem von Präsident Baschar al-Assad in Syrien. Zugleich aber auch - in zweiter Linie - als Ergebnis einer zögerlichen Reaktion der westlichen Welt auf das arabische Revolutionsjahr 2011. Wie stellte sich diese Reaktion dar?
Assad hatte nicht viel zu verlieren. Wirklich populär war er nur bei den wenigen Profiteuren seines Regimes. Er hat auf die Angst vor dem Islam spekuliert, wie sie nach 9/11 groß wurde, und versucht, die Opposition als radikal-islamisch zu diskreditieren und in die Hände der Fundamentalisten zu treiben, die von den Golfstaaten bewaffnet wurden. Das ist ihm gelungen, weil Europa und die USA gezögert haben - was nach der problematischen Intervention in Libyen sogar verständlich war. Aber dadurch entstand ein Vakuum, das die anti-westlichen Kräfte sofort ausnutzten: Russland, die Türkei, der Iran, die Monarchien am Golf. In Syrien herrschte ein Stellvertreterkrieg, in dem der Westen keine Stellvertreter hatte und damit vollkommen machtlos war. Assad war und ist geächtet - zurecht, wie ich finde. Aber mit der militanten, radikal-islamischen Opposition kann man auch nicht sympathisieren. Das Resultat war, dass die pro-westlichen Kräfte ausgewandert sind - in den Westen!
Sie schreiben, der Westen hätte auch deswegen gezögert, weil die Demonstranten von 2011 ernsthafte emanzipatorische Forderungen - so etwa nach globaler Chancengleichheit - artikuliert hätten. Was störte den Westen daran?
Zum einen waren die ersten Revolutionäre und Aktivisten säkular und damit pro-westlich, zugleich aber politisch entschieden weiter links als der westliche Durchschnitt und die Regierungen in Europa und den USA. Es waren Leute, wie sie bei uns etwa in der "Occupy Wallstreet"-Bewegung aktiv waren. Wären sie an die Macht gekommen, hätten sie sicher nicht die Politik verfochten, die man sich im Westen gewünscht hätte und die etwa die Weltbank oder der Internationale Währungsfonds (IWF) gefordert hätten. Zum anderen wären alle neuen Regierungen, die die Situation für die Masse der Menschen wirklich hätten verbessern wollen, schwierigere Partner für den Westen gewesen als die korrupten Diktatoren. Der Westen hätte also von dem Sieg der Revolutionäre kaum profitiert, allenfalls in sehr langfristiger Perspektive, was in unserer an Wahlzyklen orientierten Politik leider wenig gilt.
Im weitesten Sinn deuten Sie auch das Revolutionsjahr 2011 als Folge einer verpassten Chance im Verhältnis zwischen dem Westen und dem Nahen Osten. Wie hätte eine angemessene Reaktion aussehen können?
Das Dilemma der europäischen und amerikanischen Politik hat seinen Grund letztlich nicht in Unwillen oder Inkompetenz, sondern ist objektiv gegeben: Hätte man aktiv, womöglich militärisch eingreifen sollen, wenn es doch den Menschen um Freiheit, Unabhängigkeit, Würde und Eigenverantwortung ging? Anfangs hat kaum einer der Aktivisten eine Einmischung gewollt - erst später, als alles schiefging, kam der Ruf danach auf. Es hätte aber andere als militärische Mittel gegeben, auf die Situation Einfluss zu nehmen. Sie wären ebenfalls kostspielig gewesen und hätten große Entschiedenheit und diplomatische Entschlossenheit erfordert: Man hätte viel mehr Druck gegen die Golfstaaten aufbauen müssen, bis hin zu Sanktionen. Man hätte es nicht akzeptieren dürfen, dass sich die Golfmonarchien auf die Seite der reaktionären Kräfte stellen oder die Revolutionen durch radikal-islamische Ideologien und Dschihadisten unterwandern. Man hätte endlich tun müssen, was man nach 9/11 versäumte: die ideologischen, logistischen und finanziellen Letztverantwortlichen zur Verantwortung zu ziehen - also die Ölmonarchien am Golf. Davor scheute man sich, weil viel zu viel von unserem Geld und unserem Wohlstand mit den undemokratischen Systemen dort verbunden ist. Wir haben den Preis schließlich in anderer Form gezahlt, mit der "Flüchtlingskrise" und dem Aufkommen des Rechtspopulismus in Reaktion darauf.
Schauen wir noch einmal auf das Jahr 2011. In einigen Ländern sind die Aufstände jenes Jahres gekapert worden. In Syrien etwa durch die Dschihadisten, in Ägypten zunächst durch die Muslimbrüder, ab 2013 dann durch das Militär. Was erwarten Sie für die weitere Entwicklung? Und welche Rolle könnte der Westen spielen?
Vordergründig sind die arabischen Revolutionen gescheitert. Aber vielleicht waren nur die Erwartungen zu hoch. Ich glaube, wir tun gut daran, diese Revolutionen aus einer größeren historischen Perspektive zu betrachten. Dann können wir Ähnlichkeiten zu den europäischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts erkennen, etwa zur Julirevolution von 1830 und zu den Revolutionen seit März 1848, also zur Epoche des sogenannten "Vormärz". Das scheiterte zunächst ebenfalls, war aber deswegen nicht ergebnislos, sondern hat langfristig echte Demokratien hervorgebracht. Ich erwarte starke Veränderungen in der ganzen arabisch-islamischen Welt in den nächsten Jahren und Jahrzehnten. Wir können mithelfen, dass sie positiv verlaufen, indem wir weniger mit den Regimen, dafür mehr mit den Menschen kooperieren, etwa den Zugewanderten. Nicht alle, aber ein großer Teil wäre daran interessiert, zurückzukehren bzw. zu pendeln. Sie werden die demokratischen Kräfte und den Pluralismus stärken, werden Expertise und Bildung zurückbringen, ebenso wie Vermögen, das sie bei uns erwirtschaftet haben und dort investieren können. Diese osmotischen Prozesse müssen wir fördern, etwa in dem wir doppelte Staatsbürgerschaften erlauben, um nur ein Beispiel zu nennen.
Durch die Versäumnisse der vergangenen 20 Jahre, schreiben Sie, habe sich auch der Westen grundlegend verändert. Er sei nicht wiederzuerkennen. Können Sie dies mit Blick auf den Nahen Osten erläutern?
Das Jahrzehnt vor 9/11 war eine Epoche der Zuversicht, des Optimismus in Europa und den USA. Das änderte sich: Schon vor der Corona-Krise herrschte eine Katerstimmung. Neben der gewachsenen wirtschaftlichen Ungleichheit und dem Chaos in der neuen Medienwelt war die Hauptursache dafür die überschwappende Krise der arabisch-islamischen Welt; die Zuwanderung, die vielen nicht mehr beherrschbar schien, oder die von Populisten so dargestellt wurde; der Terrorismus, der nicht mehr nur muslimisch war, sondern plötzlich auch weiß und westlich: Hanau, Halle, Christchurch etc. In der Summe war dies eine wechselseitige Radikalisierung, die auch zu Donald Trumps Erfolg beigetragen hat, der seinerseits die schlechte Stimmung verschärfte. Da wieder herauszukommen, ist schwer, wie Biden jetzt mit Bezug auf Iran und Afghanistan lernen muss. Europa sollte mit einer Stimme sprechen, idealerweise - aber nicht notwendig - mit den USA zusammen. Wir sollten undogmatisch, vielleicht hier und da auch unkonventionell handeln, politische Offenheit schaffen, Möglichkeiten. Und schließlich, wie gesagt, weniger auf die Regime und dafür mehr auf die Menschen setzen, zum Beispiel mit freizügigerer Visapolitik.
Stefan Weidner: Ground Zero: 9/11 und die Geburt der Gegenwart, Hanser Verlag, 2021, 256 S.
Das Interview führte Kersten Knipp.