Widerstand gegen Stromtrassenausbau in Deutschland
31. Mai 2011Seit Anfang Mai liefert die erste Offshore-Windanlage "Baltic 1" Strom aus der Ostsee. An guten Tagen produzieren die 21 Räder 50 Megawatt. In den nächsten zwanzig Jahren sollen in Nord- und Ostsee - so zumindest die optimistischen Planungen der Bundesregierung - noch sehr viele solcher Windkraft-Anlagen dazukommen. Die Sache hat allerdings einen großen Haken - die bestehenden Trassen reichen nicht aus, um den Öko-Strom von der Küste weg zu transportieren. Denn schon jetzt sind die vorhandenen Stromnetze an manchen Tagen überlastet.
Gunnar Hemme steht mitten im brandenburgischen Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin auf einem Schotterweg. Links ein Teich mit lärmenden Fröschen und Rotbauchunken, rechts weite Felder. Über ihm jagende Fledermäuse - und eine 220-kV-Hochspannungsleitung. Hemme hält zwei anderthalb Meter lange Leuchtstoffröhren in den Abendhimmel Richtung Stromleitung. Nach wenigen Sekunden fangen die Röhren in seinen Händen an, schwach zu leuchten - allein durch die elektromagnetische Strahlung.
Zufrieden über den gelungenen Versuch verstaut Hemme seine Leuchtstoffröhren im Auto und fährt zurück nach Hause. Solche Experimente führt der 40-Jährige immer wieder gerne vor, schließlich ist er Sprecher der Bürgerinitiative "Biosphäre unter Strom".
Keine Totalverweigerer
Seit Jahren kämpft er mit hundert anderen gegen den geplanten Bau einer weiteren oberirdischen Trasse. Die dazugehörigen Fakten und Zahlen kann Hemme regelrecht herunterrasseln: Deutschlandweit sind laut Gesetz zum Ausbau von Energieleitungen aus dem Jahr 2009 (EnLAG) 24 neue 380 kV-Höchstspannungstrassen geplant. Lediglich bei vier Pilotprojekten werden Erdkabel getestet, drei davon liegen in Niedersachsen und eines in Thüringen, aber keines in Brandenburg.
"Ein Fehler", meinen Hemme und seine Mitstreiter von der Bürgerinitiative. "Ich will aber betonen, dass wir keine Totalverweigerer sind, wir wollen bloß ein Erdkabel statt einer Freileitung", so Hemme. Dieser Satz ist ihm wichtig, er sagt ihn bei einem Gespräch gleich mehrfach. Man habe vielmehr konkrete Gründe, die gegen die neue Freileitung sprechen. Die geplante Leitung ist 115 km lang und 30 Meter breit und zerstört allein schon deshalb die intakte Natur. Die 70 Meter hohen Masten sind doppelt so hoch wie der hiesige Wald und passen nicht zur Idylle im Biosphärenreservat. Außerdem bedroht die elektromagnetische Strahlung die Gesundheit der Menschen. Und die örtlichen Betriebe, die ihr Geld mit Ökoprodukten, sanftem Tourismus und Landwirtschaft verdienen, gehen vielleicht Pleite.
Der Mittelstand wehrt sich
"Das Ungewöhnliche an unserer Bürgerinitiative“, erzählt Hemme, während er sein Auto über holprige Feldwege lenkt, "sind die Leute darin". Zahlreiche Unternehmer der Region und sämtliche Kommunen, die von der neuen Trasse betroffen sind, haben sich angeschlossen. Sie alle bangen um ihre Existenz, denn sie befürchten, dass zum Beispiel niemand mehr Ökomilch kaufen will, wenn in 70 Metern Höhe Stromleitungen über die Weiden führen, oder dass sich Urlauber lieber auf Bauernhöfen einmieten, die keine Strommasten neben dem Stall stehen haben.
Auch Gunnar Hemme hat Angst um das Image seines Unternehmens. Der 40-Jährige ist ein blonder, kräftiger Typ, Vater von fünf Kindern in einer Patchwork-Familie und Nachfahre von niedersächsischen Milchbauern. Seit 13 Jahren ist er Chef eines Milchbetriebs in der Uckermark. Auf dem Weg nach Hause macht er an diesem Abend noch mal kurz Halt in der Firma. Bevor Hemme bei seinen Mitarbeitern nach dem Rechten sieht, bleibt er einen Moment draußen stehen.
Sein Blick schweift über die weite Landschaft, ein paar Windräder in der Ferne, die Halle für die Milchverarbeitung, den Hofladen und den benachbarten Kuhstall. Nur die Stromleitung, die quer über den ganzen Betrieb führt, stört ein wenig den idyllischen Eindruck. Allerdings ist es nur eine 110 kV-Leitung, die Masten erreichen gerade mal die Höhe von großen Bäumen und stören deshalb kaum das Landschaftsbild.
Bundesregierung regelt Netzausbau
100 Kilometer weiter nördlich sitzt Volker Kamm in einem großen Gebäude direkt an der Berliner Spree. Kamm ist Pressesprecher der Firma 50 Hertz, die das Stromnetz in Ostdeutschland betreibt und demnächst auch ausbauen soll. "Zu Vattenfall gehören wir aber schon ein Jahr nicht mehr", betont er immer wieder, sondern zu 60 Prozent einer belgischen Firma und zu 40 Prozent einem australischen Rentenfonds.
Irgendwie kann Volker Kamm die Sorgen von Hemme und der Bürgerinitiative verstehen, auch er findet Freileitungen "nicht wirklich sexy". Das Problem ist nur: Seine Firma muss bauen, und was genau, das entscheidet der deutsche Bundestag. Der hat im Gesetz vier Erdkabel vorgesehen - mehr nicht. "Aber", so Kamm, "wenn sich die Gesellschaft entschließen sollte, Erdverkabelung zu machen, dann werden wir das machen". Er gibt aber zu bedenken, dass Erdkabel teurer und manchmal störungsanfällig seien. Ein Kabel, das seine Firma in Berlin betreibt, sei mal explodiert und habe erst nach einem Jahr wieder repariert werden können.
Für Kamm muss der Netzausbau vor allem eine Bedingung erfüllen: Er muss schnell kommen. Die Windkraftanlage "Baltic 1" ist seit Anfang Mai in Betrieb, 13 andere sollen sehr bald folgen. Insgesamt sollen sie 3500 Megawatt Strom liefern, was der Leistung von drei Atomkraftwerken entspricht. Schon jetzt ist das bestehende Stromnetz an manchen Tagen überfordert. "Im letzten Jahr mussten wir grüne Stromerzeugungsanlangen an sechs Tagen bereits vom Netz nehmen. Das kann niemand wirklich wollen."
Autorin: Svenja Pelzel
Redaktion: Hartmut Lüning